Die Dörfer sind vergangen.

Über die Dörfer

Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. 
Sei nicht die Hauptperson. 
Such die Gegenüberstellung. 
Aber sei absichtslos. 
Vermeide die Hintergedanken. 
Verschweige nichts. 
Sei weich und stark. 
Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. 
Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. 
Sei erschütterbar. 
Zeig deine Augen, wink die anderen ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. 
Entscheide nur begeistert. 
Scheitere ruhig. 
Vor allem hab Zeit und nimm Umwege.
Laß dich ablenken. 
Mach sozusagen Urlaub. 
Überhör keinen Baum und kein Wasser. 
Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. 
Bewege Dich in deinen Eigenfarben; bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. 
Geh über die Dörfer. 
Ich komme dir nach.

Peter Handke „Über die Dörfer“

Wirklich alt ist der Sri Lankaramaya Buddhist Temple nicht. Errichtet 1952 in der Michael’s Road ist er damit wohl ein bisschen historisch für Singapur und könnte bestimmt viele Geschichten erzählen über die Zeit vor fast 70 Jahren. Hochhäuser warfen wahrscheinlich noch keine Schatten auf die große weiße Pagode, die auf dem Dach des Tempels mit ihrem grellweißen Anstrich gegen den blauen Himmel den Eindruck vermittelt, man befinde sich irgendwo im Himalaya. Berühigend lächelt einem der übergroße Buddha in Lotushaltung zu und lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dies auch die nächsten 70 Jahre noch zu tun. Im Garten steht ein Lebensbaum, dessen Blüten ihm gefallen und vor seinen Abbildern niedergelegt werden. Leise erklingt Gemurmel auf einem kleinen Gebetrsraum, meditative Musik als Hintergrundrauschen verstärkt diese gelöste Stimmung, die einen hier befällt und warm umschließt. Wer könnte diesen friedlichen Ort nicht mögen?

Im Central Sikh Gurdwara Tempel bedarf es konformer Kleidung, da wird keine Ausnahme gemacht. Bestimmt, aber sehr freundlich der Zugang verweigert. Für den nächsten Besuch muss ein langes Tuch ins Gepäck, um den Kopf zu verhüllen, langes Beinwerk ist ebenfalls von Nöten. Die Straße fragt nicht nach deinem Aussehen, erlaubt fast alles, ist geduldig mit seinen Besuchern. An jeder Ecke neue Ansichten, Aussichten, Einsichten.

Kleinigkeiten wecken Interesse, 1088A – eine sehr lange Straße hat der Postbote hier zu beliefern. Die zwei Damen aus Porzellan warten geduldig auf ein neues Zuhause. Wie viele Augenpaare wohl schon auf sie blickten und dann doch weitergingen. Die kleinen Eckrestaurants warten auf Hunrige, Durstige, Neugierige oder Plaudertaschen. Besen und Hüte haben Pause. Der Verkehr fließt wie ein stetiger Fluss an allem vorbei. Die Bauarbeiter ziehen vom Frühstück zur Baustelle zurück, um Träume von großen neuen Wohnungen wahrwerden zu lassen. Die Hütten der kleinen Dörfer sind Geschichte, die Bewohner von damals wären sicherlich erstaunt über diese enormen Veränderungen. Gut, das einige alte Häuser noch immer dem Bauboom trotzen. Ein lustiger Kakadu redet viel, darf nicht fliegen, sein Paradies ist woanders.

Ein Relikt aus alten Zeiten findet sich kurz vor dem Indischen Tempel. Kohlen werden hier gehandelt, die ältere Frau ist schwarz wie ein Mohr (darf nicht mehr geschrieben werden, gibt es eine bessere Bezeichnung?), sie schuftet hier schon seit den 60ern. Staublunge vermutlich inklusive. Die schön gemusterten Bodenfließen sind überzogen mit Ruß. Früher wurde viel mit Kohlen geheizt, auch dort wo ich aufwuchs musste geschippt werden, eimerweise in den Keller, eimerweise wieder in die Wohnung geschleppt. Sie sortiert die Kohlenstücke in tragbare Säcke zum Verkauf. Bald will sie sich zur Ruhe setzen, es wird wohl keine Nachfolge geben, vermutlich. Kohlen braucht fast niemand mehr.

Vertraute Klänge schallen aus dem Sri Vadapathira Kaliamman Temple, Glockengebimmel, Mantras werden gesungen oder gesprochen. Die Schuhe vor dem Eingang stehen wild durcheinander, Tauben picken in den vertreuten Blüten nach Genießbarem. Hanuman, der Affenkönig wirft einen erhabenen ernsten Blick auf jeden, der hier vorbeikommt. Friedlich faltet er seine Hände zum Gebet. Im kleinen Laden nebenan liegen Kekse und Gewürze, die Verpackung erinnert an die Kindheit der Kohlenfrau. Vielleicht hat sie sich hier ab und zu eine Süßigkeit geholt, während ihre Eltern damals die Säcke füllten.

Ums Eck locken zwei weitere Tempel, die eine Art Zirkusarena bilden. Wilde Tiere, farbenfrohe Dekoration inklusive. Im Leong San See Temple wird vielen Buddhastatuen gehuldigt, die alte Dame im Rollstuhl ist bei der angenehm ruhigen Atmosphäre eingenickt. Gegenüber bespricht sich eine Frau im Tierdruckshirt mit dem Tiger vor dem Sakya Muni Buddha Gaya Temple. Der riesenhafte Buddha im Inneren passt auf kein Foto und erschreckt mehr, als beruhigend zu wirken. Sehenswert ist es trotzdem. Heute nur für Einheimische, die Zeit finden und vielleicht den Schatten suchen.

Serangoon endet oder beginnt in Little India. Dörfer sucht man vergeblich. Das letzte Kampong liegt in Pungol. Es wartet schon auf einen Besuch.

Allerlei streift den Blick auf den letzten Metern, ein bunter Strauß voller Nebensächlichkeiten, die dieses Viertel so lebendig erscheinen lassen. Hinter jeder Straßenecke verbirgt sich eine Gasse voller kleiner Geheimnisse. Wer genau hinschaut findet sein Seelenheil. Nie war der berühmte Mix der Kulturen derart greifbar, spürbar, erlebbar, genießbar, wunderbar. Mögen diese Gassen ihren Charme nicht verlieren und für die kommenden Besucher standhaft der Modernisierung trotzen. Sie hätten es verdient.

Genau hinsehen

Fülle ist nicht immer Fülle.
Nur zusammen mit Leere
ist Fülle Erfüllung für uns.
Das Leben braucht den Platz der Leere,
um sich auszubreiten und seine einmalige Gestalt anzunehmen.

Zeit ist nicht Geld, sondern Zeit.
Wenn ich der Zeit erlaube, sich mir zu schenken,
wird sie mich mit Reichtümern überschütten.
Dann wird durch die Zeit
die Ruhe und das Glück des Entdeckens möglich.

Beschäftigung ist nicht Bedeutung.
Was ich ohne Beteiligung meines Wesens tue,
bleibt nur die Tat meiner Hände, meiner Lippen, meines Körpers.

Ein volles Programm ist nicht unbedingt ein erfülltes Programm.
Weniger zu tun kann heißen, mehr getan zu haben,
wenn es von Herzen kam.

Jeder Weg, der zu etwas führt,
führt auch weg von etwas.
Ich übe, im Wenigen die Fülle zu sehen.

© Ulrich Schaffer

Das Glück steckt im Detail

Ich gucke gerne aufs Detail. Detail ist für mich der Mensch.
Die Einzelschicksale sind für mich kolossal interessant.

Regine Hildebrandt

Ghim Moh ist der Name dieses Areals, 28 Blocks, ein Frischemarkt mit angeschlossener Freiluftkantine (Hawkercenter), im Stadtteil Queenstown. Sonst sind hier noch einige Schulen angesiedelt und es gibt eine Post, die nächstgelegene U-Bahnstation heißt Buona Vista. Hier wohnen keine „Ausländer“, nur Einheimische. Meinem Gefühl nach fühlen sie sich hier sehr wohl. Es ist fast alles zu Fuß erreichbar, Ärzte, Friseure, Wettbüro, ein Supermarkt und im Zentrum der Wohnblocks das Ghim Moh Freshmarket und Foodcentre. Am Morgen ist hier meistens für die älteren Anwohner der Treffpunkt. Es wird gefrühstückt, Kaffee geschlürft und es werden die Neuigkeiten des Tages ausgetauscht. Karten spielen, die kleinen Enkel zum Spielplatz begleiten, den Tippschein zum Wettbüro bringen. Gemütlich haben sie es, warm und gesellig. Hier einsam zu sein ist ein Problem, das wohl eher nicht auftritt. Der Marktplatz der Glückseeligkeit – ein schöner Ort – kein Platz zum Trübsal blasen.

Nach meinem Kaffee und einem Prata zwischen den glücklich lächelnden Menschen versuchte ich mich am Einfangen der kleinen Details. Jeder kann sie finden, der nicht nur hektisch durch diese Orte in der Stadt streift.

Aller guten Dinge sind 3 Öfen.
Wäschetrockenmethode
Linker Fuß im rechten Licht
Hintereingang
Die Zweisamkeit der Stühle.
Bitte ruf an.
Aschenputtel wo bist du?
Klassisch & ökologisch
Neue Besen braucht das Land.
Zeigt her deine Füße, …
Diskolicht am Straßenrand
In der Ruhe liegt die Kraft.
Manche haben ständig den Daumen auf der Waagschale ihres Lebens.
Wachmacher immer parat.
Showroom der Kartoffelmercedese
Keine Messer in Asien
Abstand halten bitte.
Wer den Krümel nicht ehrt …
Neue Pilzsorte entdeckt.
Zusammenhalt
Zimmerpflanze abgeparkt.
Heute gab es Mengenrabatt.
Loch im Tisch ist praktisch.
Gott der Reinigung
Wunderland Amerika
Gemütlichkeit kennt ihr Grenzen.
Gegen die schwarze Haarflut gibt es hier Hilfe.
Das Ballettröckchen.
Er stellt sich einfach ins schönsten Licht.
Hausaltar und Feuerstelle gesichert.
Mangelware Zweitschuh
Bitte unbedingt nur in den Absperrungen parken!
Die asiatische Variante des „Coffee To Go“
Heute keine Zeit für Pause.
Die Abstellkammer.
Verkaufsschlager in den Tropen
Parade der stillen Frauen
Lachen mal wieder!
Goldlöckchen
Die Frisur sitzt immer.
Größter Gestank auf Erden.
James Monger is watching you!

Das Unverständliche ist die Etikette, die das Schicksal für sein Sortiment verwendet. Mit dem Unverständlichen kannst du überallhin reisen, es erklärt dir jeden Zufall, jeden Defekt, jeden Erfolg und jedes Detail des Glücks.

© Billy
Die Zukunft steht nebenan – eine von so vielen Shoppingmalls

Ein stiller Morgen

Abend wards und wurde Morgen,
Nimmer, nimmer stand ich still,
Aber immer bliebs verborgen,
Was ich suche, was ich will

Friedrich von Schiller (1759 – 1805)

Das Übervollsein des Tages ist der völligen Leere gleichzusetzen.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Ergreife den Augenblick, damit er dich gefangen nehmen kann.

Siegfried Wache

Was ist Geschichte? Der Nagel, an dem ich meine Romane aufhänge.

Alexandre Dumas der Ältere (1802 – 1870)

Wer keine fremde Moral kennt, kennt seine eigene nicht – gleichwie, wer keine fremde Sprache, keine fremde Religion kennt, seine eigene Sprache und Religion nicht kennt.

Paul Rée (1849 – 1901)

Die Halle der Wissenschaft ist der Tempel der Demokratie.

Henry Thomas Buckle (1821 – 1862)

Wer zu lange gegen Drachen kämpft, wird selbst zum Drachen.

August Strindberg (1849 – 1912)

Ein klar denkender Mensch fand noch nie daran Vergnügen, seine Gedanken in Symbole zu kleiden.

Ernest Renan (1823 – 1892)

Arbeitslose wissen am besten, was harte Arbeit ist: Arbeitssuche.

Peter F. Keller

Krieg, Handel und Piraterie,
Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Das Tagtägliche erschöpft mich!

Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)

Geschlossene Gesellschaft

Schon als Kind ging sie gerne im kleinen Dorf der Oma mit ihr zusammen auf den Friedhof. Mindestens jeden dritten Tag im Sommer, zum Gießen und Wege harken. Sie liebte es, die Namen und Sprüche auf den Grabsteinen zu lesen. Auch Kinder fand sie und malte sich das Leben dieser im Himmel aus. Die riesigen Blumensträuße zu bewundern, die vor den Grabsteinen standen. Der Friedhof lag direkt gegenüber vom Haus der Oma, was sie manchmal als gruselig empfand. So nah bei den Toten. Aus dem oberen Fenstern im Haus konnte sie sogar ab und an bei Beerdigungen zusehen. Als die Tante Ella starb, musste sie mitgehen und empfand es nicht schlimm. Der Tod bescherte der Tante viele Gäste in der Kapelle, noch mehr Blumen auf dem Grab und nach der Feier gab es Unmengen an Kuchen. Schnell war dieses Erlebnis wieder vergessen im Kinderkopf.

Später wusste sie mehr um die Bedeutung und die Gefühle, wenn Menschen für immer gingen. Den Schock, die Trauer, die Wut, den Schmerz und die Hilflosigkeit dieser Endgültigkeit. Friedhof, ein Hof des Friedens. Letzte Ruhestätte. Eigentlich mag sie diese Orte wegen der Ruhe, oft gibt es große Bäume und Tiere zu sehen. Alte Grabstätten mit aufwenigen Steinen, Skulpturen oder Ornamenten. Dem geliebten Menschen wird ein Denkmal gesetzt, damit er in Erinnerung bleibt. Jeder kann lesen, wer begraben liegt, wie alt er wurde und manchmal sogar welchen Beruf er hatte. Gräber mit Fotos findet sie selten, in Italien ist das Tradition und in Singapur.

Mit den Fotos macht sie sich ein Bild, kann sehen, wer geliebt wurde und jetzt betrauert. Das ist hilfreich auf diesem Dschungelfriedhof oben auf dem Hügel, der durch eine Stadtautobahn gespalten wurde. Die meisten Steine zieren chinesische Schriftzeichen, auf einigen findet sie lesbare Namen.

Es ist tropisch heiß und die Luftfeuchte treibt den Schweiß aus allen Poren. Sobald sie stehen bleibt krabbeln sofort Ameisen an ihren Beinen empor. Erst hatte sie sich gar nicht getraut den Weg weiterzufahren, der wie ein kleiner Pfad in dichtes Grün führte. Eine ortskundige Frau nahm sich Zeit für sie, um ihr den besten Rundgang zu erklären, sie sollte auf die Vögel achten, die hier zu sehen sind, Schlangen und wilde Schweine oder Hunde wären eher nicht anzutreffen. Zumindest bei den Schlangen hatte die Dame Unrecht, aber die waren klein und scheu.

Ruhe herrschte hier tatsächlich, fast keinen Menschen traf sie. Die kleinen Verschläge aus Plastikplanen, unter denen Tische, Stühle, Schränke und Gartengerätschaften standen, waren heute alle verwaist. Ungestört konnte sie die teilweise unter hohem Gras liegenden Grabstätten bestaunen. Manche sind mit bemalten Kacheln verziert, auf denen Landschaftbilder zu erkennen sind. Auch Reliefkacheln mit Blumenmuster findet sie. Vor großen Grabstätten stehn Statuen aus Stein, auf einigen hat sich Moos gebildet. Aus einer kleinen pinken Plastikblume erklingt Musik, als sie vor der Grabanlage der Familie Ong Sam Leong steht.
Die Hinterlassenschaften des Geistermonats werden wohl bald von den Parkpflegern beseitigt, Teelichter, Räucherstäbchen, Essen in allen Formen. Am regulären Eingang trifft sie auf die Arbeiter, die Gras schneiden, ein kleines Feuer betreiben für die biologischen Reste und immer wieder Schatten suchen, um eine kleine Pause in der Mittagshitze einzulegen. Ein älterer Mann mit Brille sitzt unter einer Plane und erklärt, dass er in Rente sei und jetzt Zeit hat, sich um das Grab seinen Großvaters zu kümmern. Warum vergisst sie zu fragen, wann dieser gelebt hat? Sie fragt nach den Sikh Statuen und zeigt ein Foto aus dem Internet. Gleich schwingt sich ein anderer Herr auf sein Rad und begleitet sie zum Grab, an dem diese Wache halten. Seit 1973 wird keiner mehr zur Ruhe gebettet. Diese freundlichen Männer werden wohl eine andere letzte Stätte finden müssen.

Kindergräber findet sie keine hier, vielleicht kann sie es einfach nicht erkennen, bestimmt gibt es einige. Der Friedhof hat Freunde gefunden, die um seinen Erhalt kämpfen. Das wäre ganz wunderbar. Zeitreisen in die Vergangenheit lassen einen viel lernen über die Gegenwart und Zukunft.

Einige Infos zum Bukit Brown Friedhof finden sich hier:

https://der-farang.com/de/pages/letzte-ausfahrt-bukit-brown-friedhof-wird-autobahn