Geschlossene Gesellschaft

Schon als Kind ging sie gerne im kleinen Dorf der Oma mit ihr zusammen auf den Friedhof. Mindestens jeden dritten Tag im Sommer, zum Gießen und Wege harken. Sie liebte es, die Namen und Sprüche auf den Grabsteinen zu lesen. Auch Kinder fand sie und malte sich das Leben dieser im Himmel aus. Die riesigen Blumensträuße zu bewundern, die vor den Grabsteinen standen. Der Friedhof lag direkt gegenüber vom Haus der Oma, was sie manchmal als gruselig empfand. So nah bei den Toten. Aus dem oberen Fenstern im Haus konnte sie sogar ab und an bei Beerdigungen zusehen. Als die Tante Ella starb, musste sie mitgehen und empfand es nicht schlimm. Der Tod bescherte der Tante viele Gäste in der Kapelle, noch mehr Blumen auf dem Grab und nach der Feier gab es Unmengen an Kuchen. Schnell war dieses Erlebnis wieder vergessen im Kinderkopf.

Später wusste sie mehr um die Bedeutung und die Gefühle, wenn Menschen für immer gingen. Den Schock, die Trauer, die Wut, den Schmerz und die Hilflosigkeit dieser Endgültigkeit. Friedhof, ein Hof des Friedens. Letzte Ruhestätte. Eigentlich mag sie diese Orte wegen der Ruhe, oft gibt es große Bäume und Tiere zu sehen. Alte Grabstätten mit aufwenigen Steinen, Skulpturen oder Ornamenten. Dem geliebten Menschen wird ein Denkmal gesetzt, damit er in Erinnerung bleibt. Jeder kann lesen, wer begraben liegt, wie alt er wurde und manchmal sogar welchen Beruf er hatte. Gräber mit Fotos findet sie selten, in Italien ist das Tradition und in Singapur.

Mit den Fotos macht sie sich ein Bild, kann sehen, wer geliebt wurde und jetzt betrauert. Das ist hilfreich auf diesem Dschungelfriedhof oben auf dem Hügel, der durch eine Stadtautobahn gespalten wurde. Die meisten Steine zieren chinesische Schriftzeichen, auf einigen findet sie lesbare Namen.

Es ist tropisch heiß und die Luftfeuchte treibt den Schweiß aus allen Poren. Sobald sie stehen bleibt krabbeln sofort Ameisen an ihren Beinen empor. Erst hatte sie sich gar nicht getraut den Weg weiterzufahren, der wie ein kleiner Pfad in dichtes Grün führte. Eine ortskundige Frau nahm sich Zeit für sie, um ihr den besten Rundgang zu erklären, sie sollte auf die Vögel achten, die hier zu sehen sind, Schlangen und wilde Schweine oder Hunde wären eher nicht anzutreffen. Zumindest bei den Schlangen hatte die Dame Unrecht, aber die waren klein und scheu.

Ruhe herrschte hier tatsächlich, fast keinen Menschen traf sie. Die kleinen Verschläge aus Plastikplanen, unter denen Tische, Stühle, Schränke und Gartengerätschaften standen, waren heute alle verwaist. Ungestört konnte sie die teilweise unter hohem Gras liegenden Grabstätten bestaunen. Manche sind mit bemalten Kacheln verziert, auf denen Landschaftbilder zu erkennen sind. Auch Reliefkacheln mit Blumenmuster findet sie. Vor großen Grabstätten stehn Statuen aus Stein, auf einigen hat sich Moos gebildet. Aus einer kleinen pinken Plastikblume erklingt Musik, als sie vor der Grabanlage der Familie Ong Sam Leong steht.
Die Hinterlassenschaften des Geistermonats werden wohl bald von den Parkpflegern beseitigt, Teelichter, Räucherstäbchen, Essen in allen Formen. Am regulären Eingang trifft sie auf die Arbeiter, die Gras schneiden, ein kleines Feuer betreiben für die biologischen Reste und immer wieder Schatten suchen, um eine kleine Pause in der Mittagshitze einzulegen. Ein älterer Mann mit Brille sitzt unter einer Plane und erklärt, dass er in Rente sei und jetzt Zeit hat, sich um das Grab seinen Großvaters zu kümmern. Warum vergisst sie zu fragen, wann dieser gelebt hat? Sie fragt nach den Sikh Statuen und zeigt ein Foto aus dem Internet. Gleich schwingt sich ein anderer Herr auf sein Rad und begleitet sie zum Grab, an dem diese Wache halten. Seit 1973 wird keiner mehr zur Ruhe gebettet. Diese freundlichen Männer werden wohl eine andere letzte Stätte finden müssen.

Kindergräber findet sie keine hier, vielleicht kann sie es einfach nicht erkennen, bestimmt gibt es einige. Der Friedhof hat Freunde gefunden, die um seinen Erhalt kämpfen. Das wäre ganz wunderbar. Zeitreisen in die Vergangenheit lassen einen viel lernen über die Gegenwart und Zukunft.

Einige Infos zum Bukit Brown Friedhof finden sich hier:

https://der-farang.com/de/pages/letzte-ausfahrt-bukit-brown-friedhof-wird-autobahn