Jahresschau 2023

Sinnbildlich taten sich viele Abgründe auf, in diesem wie schnelle Wolken vorbeiziehenden Jahr 2023. Schmerz und Leid gab es für viele Menschen auf dieser Erde, die überwiegende Mehrheit war und ist unschuldig daran. Die Verwantwortlichen rechtfertigen dieses Leid aus den unterschiedlichsten Gründen. Eine einzig richtige Wahrheit zu finden ist nicht möglich, auch wenn viele diese Sehnsucht nach einfachen Antworten haben. Es ist und bleibt kompliziert und es muss täglich ausgehandelt werden, wie man selbst damit umgeht. Ich bin dankbar für die vielen guten und ausschlussreichen Gespräche mit Menschen in meinem Umfeld, über Bücher und Podcasts, die Licht ins Dunkle bringen, über ein sicheres Zuhause und meine gesunde Familie. Für das Brot, dass ich backen darf und die Möglichkeiten zu Reisen, um Fotografien mit nach Hause zu bringen. Die Erfahrungen auf Reisen prägten schon immer die Menschen und spornten zu Verständnis und einem versöhnenden Miteinander an. Ich habe die Hoffnung, dass es auch in Zukunft so sein wird, aber ich weiß auch, dass sich immer noch schlimmere Abgründe auftun könnten. Vielleicht ist die Hoffnung stärker und 2024 wird ein friedlicheres Jahr mit Weitsicht und mehr Gefühl auf allen Seiten.

Spannend fand ich in diesem Jahr ganz besonders:

„Die Psychotische Gesellschaft“ von Ariadne von Schirach – Hier ein Auszug:

„Die Wiederaneingnung des Lebens und des Zusammenlebens ist so leicht und so schwer wie ein erster Kuss, wie ein fester Entschluss oder ein Lachen nach langer Traurigkeit. Sie ist das Wiederaufnehmen eines Gespächs, das nicht mehr nur von einzelnen Auserwählten, sondern von uns allen und zugleich im bewussten Austausch mit allem, was mit uns ist, geführt werden muss. Wir selbst sind die Zukunft, die wir suchen, ihre Eltern und ihre Kinder zugleich. Und obwohl man sich gewisse Dinge nicht aussuchen und das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen kann, ist es tatsächlich möglich, neu und anders zu träumen. Von Dingen, die uns verbinden, begeistern, erheben. Und die es verdammt nochmal wert sind. Der poetischen Dimension des eigenen Daseins gewahr zu werden ist nur ein anderer Ausdruck für einen mündigen Umgang mit unserer angeborenen Schöpfungskraft. Wir können unseren geplünderten Planeten wieder in eine echte Heimat verwandeln, sein Für-uns in ein Mit-uns. Doch das ist tatsächlich co-creation, Mit-Schöpfung. Wir sind wirklich nicht allein hier. Wir leben mit der Natur, den Tieren, den Pflanzen und all dem, was wir bislang gedacht, gemacht und versäumt haben. Dieses Wissen ist das Wesen unsere Verantwortung. Denn wir Menschen sind die Hüter der Erde.“

Die Dokumentation. „Rebellinnen – Fotografie. Underground DDR“ – noch zwei Tage verfügbar in der Mediathek der ARD

Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer berichten über die Schwierigkeiten als Künstelerinnen in der DDR zu arbeiten und zu leben. Nicht ohne Tränen konnte ich diesen Geschichten lauschen und staunen, was trotz Repressalien und Gefängnisstrafe möglich war.

Die Podcastfolgen:

„Das Politikteil – An Israel spaltet sich die Linke“ von Zeit Online – Eva Menasse eine streitbare Gästin!

„Alles Gesagt?“ von Zeit Online – die Folgen mit Hadija Haruna Oelker (Wie schön ist die Differenz?); Luise Pusch (Warum ist Deutsch eine Männersprache?); Alena Buyx (Warum ist Leben nicht das höchste Gut?) und Ferdinand von Schirach (Was ist ein gelungenes Leben?)

Mein fotografischer Jahresrückblick:

JANUAR

Da der Schnee fehlte gab es Kultur in Salzburg. Die echten Mozartkugeln wurde nach eigenen Angaben 1890 vom Salzburger Konditor Paul Fürst kreiert und nach dem fast 100 Jahre zuvor verstorbenen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart benannt. Der ursprüngliche Name war Mozart-Bonbon. Die nach dem Originalrezept von Hand zubereiteten Original Salzburger Mozartkugeln werden bis heute von der Konditorei Fürst hergestellt und nur in deren Geschäften verkauft sowie im Internet zum Versand angeboten. Mangels Schutzrechten der Firma Fürst gibt es zahlreiche Nachahmerprodukte, die vor allem industriell produziert werden. Quelle: Wikipedia. Echte Mozartkugeln erkennt man übrigens an der blau-silbernen Verpackung.

FEBRUAR

Ein Besuch in Leipzig, quasi ein Muss in jedem Jahr, der Familie zuliebe, und der Fotografie und weil es eine Stadt ist, die man immer wieder neu entdecken kann.

MÄRZ

Lehrt eure Kinder, was wir unsere Kinder lehrten. Die Erde ist unsere Mutter. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne und Töchter der Erde. Denn das wissen wir: Die Erde gehört nicht dem Menschen – der Mensch gehört zur Erde. Alles ist miteinander verbunden wie das Blut, das eine Familie vereint.

Chief Noah Seattle (1786 – 1866)

APRIL

Schwan auf dem Neckar im Tübingen – der Frühling lockt nach draußen.

MAI

Die jüngere Tochter wird in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Jugendweihe, ein wichtiger Tag in ihrem Leben. Ella, wir wünschen dir das Beste für deine Zukunft. Mögen viele deiner Träume und Wünsche in Erfüllung gehen.

JUNI

Oostende in Belgien – ein kleines Land, das wir noch nicht kannten. Es überraschte mit seinen zugwandten Menschen. Landschaft und Ortschaften zu erkunden bei bestem Wetter, was braucht es mehr für das kleine Glück zwischendurch. Das Meer mit Wind und Wellen – iTüpfelchen.

JULI

ABI 2023! – Wir feiern mit Stolz das Abitur der großen Tochter. An sechs Schulen in vier Ländern mit viel Fleiß und Tränen, aber auch mit vielen Freundinnen und Erlebnissen war diese Schulzeit eine ganz besondere. Geh deinen eigenen Weg liebe Charlotte, die Welt steht dir offen.

AUGUST

Norwegen – Sehnsuchtsort seit langer Zeit. Dieses Jahr haben wir uns diesen Wunsch erfüllt. Wir sind begeistert von diesem Land (zumindest von dem kleinen Teil, den wir erleben konnten) und werden sicher nicht zum letzten Mal hier gewesen sein. Das Foto entstand am Ende der Welt.

Verdens Ende liegt am Ende des Oslofjords und bildet die Südspitze der norwegischen Insel Tjøme in der Kommune Færder, Provinz Vestfold og Telemark. Anfang des 20. Jahrhunderts tauften Sommergäste aus der Region den Ort Verdens Ende, was im Deutschen „Ende der Welt“ bedeutet. Davor war das Gebiet mit Blick auf den Skagerrak vor allem als Aussichtspunkt für Lotsen bekannt, die auf der Jagd nach Aufträgen waren. Quelle: Wikipedia

SEPTEMBER

Montafon im Spätsommer. Wieder unbekanntest Terrain, die Wanderungen zum Teil sehr herausfordernd, die Kulisse atemberaubend schön. Moderne Architektur trifft hier auf traditionellen Charme.

OKTOBER

Und dann gab es Tage und Wochem erfüllt von Schmerzen für Ella. Da bedurfte es viel an Liebe, Mitgefühl und Zuspruch. So tapfer ging sie durch eine heftige OP in diesem jungen Alter. Im nächsten Sommer steht die nächste auf dem Programm. Dann hoffen wir, dass alle Sporarten wieder ohne Probleme möglich sein werden.

NOVEMBER

Das beste Geburtstagsgeschenkt seit langem – eine Woche New York. Mit Mann, Fotos und vielen Eindrücken kam ich beseelt zurück. Jetzt kann das 50. Lebensjahr starten. Ich bin gespannt, was 2024 bereit hält. Einige Ideen habe ich bereits. Ich wünsche mir auf jeden Fall mehr wahrhaftige Begegnungen und die eine oder andere Überraschung ist natürlich ebefalls willkommen.

DEZEMBER

Wer Engel sucht in dieses Lebens Gründen, der findet nie, was ihm genügt. Wer Menschen sucht, der wird den Engel finden, der sich an seine Seele schmiegt.


Christoph August Tiedge (1752 – 1841)

Das Beste kommt zum Schluß. DANKE für 365 Tage voll mit allem was Herz & Seele brauchen, um diese Welt auszuhalten.

Montafon – eine erste Annäherung

Jede Zeit glaubt sich auf der Höhe des Berges, den menschliche Kultur langsam ersteigt und jede folgende sehnt sich zurück nach dem heimlichen Tal, das jene für das Ende ihres Weges gehalten hatte.

August Pauly (1850 – 1914)

Landschaft – Szenerie – Stille – Ausblicke – Tradition – die Bergwelt fasziniert und ohne sie wäre die Welt irgendwie leer, flach und anders. Welches Glück, dieses Schauspiel der Natur nicht weit entfernt zu finden und tatsächlich immer neue Gegenden entdecken zu können. Aus dem engen Tal erheben sich mit aller Kraft die Gipfel und wenn die Sonne am Morgen die ersten Strahlen auf die Flanken der Gesteine wirft, zieht es einen nach Draußen und in die Höhe.

Am Ziele deiner Wünsche wirst du jedenfalls eines vermissen: dein Wandern zum Ziel.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)

Durchs Silbertal führte einer unserer Wege, die wir gingen. Früher für den Silberabbau bekannt, beherrschen heute der Tourismus und die Landwirtschaft die Geschäfte der knapp 900 Personen zählenden Gemeinde. Die Litz fließt stetig das Tal hinunter und gibt uns Wanderern Kühlung im nicht enden wollenden Sommer.

Lerne Laufen und du enteilst der Zeit.

Volkmar Frank (*1962)

Trügerisch die Idylle – die Alpen werden sich verändern – das Klima lässt die Kühe bis spät in den September hinein auf den Almen grasen. Die Touristen suchen ganzjährig, was sie in den Bergen für sich erhoffen. Ruhe oder Trubel liegen hier nicht sehr weit auseinander. Abgelegene Pfade kennen wohl nur die Einheimischen.

Der Mensch ist zur Vollkommenheit nur bei der Zerstörung fähig.

Erhard Blanck

Unwissend falsch abgebogen sind wir am letzten Tag dieser kurzen Reise. Der steile Pfad führte uns auf einen alpinen Steig, der unsere Ausdauer, Geduld und auch ein bisschen Mut herausforderte. Das „Hohe Rad“ erreichten wir letztendlich nicht, die Hütte darunter zum Glück vor Schließung und totalem Ausverkauf. Es waren anstrengende Stunden, die uns dennoch als besondere in Erinnerung bleiben werden. Der Zauber des Alpenglühens, wenn die letzten Sonnenstrahlen alles in ein magisches Licht tauchen, entschädigte für die Mühen.

Der Silvrettagletscher ist auch hier fast verschwunden. Seit 1956 ist er um mehr als 300 Meter geschrumpft. Falls es in meinem Leben Enkelkinder geben sollte, werden diese wahrscheinlich nur noch die kümmerlichen Reste des Gletschers erleben können.

Meine erste Reise nach der Öffnung der Mauer ging übrigens auch in die Berge. 1990 bestaunten wir die Gipfel, Gletscher und Täler der Dolomiten in Italien, damals war ich nur wenige Monate älter, als meine Tochter heute. So konnte ich ihr berichten, dass es damals eine sehr emotionale Reise für unsere Familie war. Zusammen mit den Verwandeten aus Rheinland-Pfalz, die uns jahrelang in der DDR besuchen kamen, konnten wir jetzt gemeinsam vereisen. Im geliehenen Auto und mit geborgten Geld feierten wir damals die Wiedervereinigung und den Sieg der Deutschen Fußballer bei der gerade dort stattfindenden Weltmeisterschaft in Italien.

Berge kommen nicht zusammen, aber Menschen.

Jüdisches Sprichwort

Die Touristin

DUDEN – Rechtschreibung

Worttrennung Tou|ris|tin

Bedeutungen (2)

  1. [Urlaubs]reisende; weibliche Person, die reist, um fremde Orte und Länder kennenzulernen

Beispiel: nicht jedes Reiseland empfiehlt sich für alleinreisende Touristinnen

2. Ausflüglerin, Wanderin, Bergsteigerin – Gebrauch veraltet

Fast 30 Jahre ist es her, dass ich als Toursistin Frankreich besuchte. Die Bretagne verzauberte mich damals mit ihrer Wildheit, dem gleißenden Licht, dem rauschenden Atlantik, der salzigen Luft und einer Schönheit in nahezu jedem Winkel. Wir lagen an den Stränden rund um Brest und Quimper, ließen uns Baguettes und Croissants schmecken. Einzig die Sprache empfand ich damals als ein Hindernis, kein Wort beherrschte einer von uns, außer merci, bonjour oder au revoir. Mit Händen und Füßen kamen wir dennoch immer ans Ziel und erlebten eine unbeschwerte Zeit, weit weg von zu Hause, damals gefühlt eine Weltreise entfernt.

Ich bin gerne Touristin, noch lieber Beobachterin, Fotografin und ein bisschen auch Dokumentarin. In Zeiten, in denen Krieg in Europa herrscht, 500 km entfernt, in denen Kurztrips mit dem Flugzeug mit dem Gewissen nur noch schwer zu vereinbaren sind, in denen schon längere Autofahrten vermieden werden sollten, ist es trotzdem richtig, andere Länder zu bereisen. Einzutauchen in die andere Kultur, der „fremden“ Sprache zu lauschen, die Sinne mit Eindrücken zu überfluten. Die Geschichte der Region zu recherchieren, die Menschen kennenzulernen, die nur eine Grenze entfernt wohnen.

Das Elsaß hat eine bewegte Geschichte, verwoben mit Deutschland, heute berühmt für seinen Wein und die vielen historischen Plätze – Burgen, Dörfer, Städte, …

Ich fühle mich nicht fremd, auch wenn ich die Sprache noch immer nicht kann. Wir erkunden die Gegend, die Natur – geprägt von Weinbau. Schauen weit über das Land hoch oben von den Burgen an den Ausläufern der Vogesen. Kaufen lokale Produkte, wie Käse, Salami und Wein, kommen an keiner Bäckerei vorbei. Die kleinen Gassen des Ortes, in dem wir eine Unterkunft gefunden haben, erinnern an eine mittelalterliche Filmkulisse. Der Vermieter berichtet von 2 Millionen Touristen im Jahr, die sich hier ab Mitte Mai drängen. Ja da ist es wieder, dieses Gefühl. Touristin zu sein, Freude und Leid zugleich. Die Region braucht die Touristen und wahrscheinlich verfluchen die Einheimischen sie trotzdem manchmal. Ich kann das gut verstehen.

Fremde

Wo
nur ich
mir
Heimat wurde

Hans-Christoph Neuert

Was wäre es für ein Leben, wenn Grenzen für immer geschlossen, Reisen nicht erlaubt und Entdeckungen nicht mehr möglich wären? Arm und perspektivlos wäre es. Die Welt lebt vom Austausch und ich hoffe und wünsche mir, dass dieser zu mehr positiven Effekten führt, die Zukunft auf eine sichere Basis stellt. Den Horizont zu erweitern hilft dabei auf jeden Fall. Reisen bewegten schon immer Menschen und ihre Ideen, Gedanken und Waren – in der Vergangenheit und sicher auch in der Zukunft.

Ich liebe an einer neuen Begegnung den Erdrutsch in meiner inneren Landschaft, der neue Kontinente entstehen läßt und andere zum Verschwinden bringt. Vieles verändert sich, manches bleibt erhalten …aber die gesamte Seelenlandschaft wird neu strukturiert, wenn man es zuläßt und nichts in eine Form zwingen will.

Irina Rauthmann

Kultur ist richtig umschrieben worden als Liebe zur Vollkommenheit; sie ist eine Studie der Vollkommenheit.

Matthew Arnold 1822 – 1888

Alice ohne Wunderland

INTRO

Ich trage Gedichte

Um den Theetisch saßen wir,
Oder tranken wir Kaffee oder Chokolade,
Ein Traum nur war es,
Und alles lebt nur wie Schatten noch,
Wie Bilder aus einer Laterne magika
In meiner Erinnerung.
Deutlich nur seh ich
Zur Rechten mir das kleine zierliche Mädchen,
Zwölfjährig, kaum älter.
Unendlich traurig
Sah es mit großen blauen Augen
In seinen Schoß,
Die einzige Betrübte in unserem heitern,
Scherzbelebten Kreis.

Was fehlt dir Alice?
Warum denn so still heute?
Ach, so klang es von rosigen Kinderlippen,
Ich bin so schwermütig heute –
Ich trage Gedichte.

Was? du trägst Gedichte, Alice?
Und endloses Gelächter umschwirrte dich,
Übermütig,
Wie ausgelassene Tagvögel
Die alte ernste, unzufriedene Eule umspotten.
Ich trage Gedichte…
Wachend hör‘ ich immer noch
Diese zaghafte, traurige Antwort,
Die mich so tief rührte,
Aus Kindermund so tief rührte.

Ich trage Gedichte…
Was wissen die anderen,
Leicht frohen Alltagsseelen,
Wie einem zu Mute ist,
Wie uns beiden zu Mute ist, Alice,
Wenn wir Gedichte tragen.
Wie weh, wie krank unsere Seele sein kann,
Wenn’s drin keimt,
Wenn’s drin zuckt,
Mit ersten leisen Regungen,
In Schmerzen empfangen,
Mit Schmerzen geboren,
Seele von unserer Seele,
Blut von unserem Blut.

Kleine schmerzdurchzuckte Dichterin,
Freue dich.
Dein Reich war der Traum.
Die Sonne des Morgens küsste dich auf,
Dich und deine Schmerzen,
Wie den Nachttau von den Blättern der Blumen,
Denen du in ernster Lieblichkeit glichst.

Ich aber lebe.
Mein Tag ist kein Traum,
Und wenn ich schwermütig bin
Und Gedichte trage,
Darf ich’s nicht einmal sagen am Theetisch.
Sie würden mich auslachen,
Wie sie dich auslachten,
Nur thut’s noch zehnmal weher,
Am hellen, wirklichen Tage ausgelacht zu werden,
Und unsere Schmerzen
Sind ihnen immer lächerlich.
Sie verstehen uns nicht.
Wie schön, sagen sie, dichten zu können,
Wenn wir es doch auch könnten.
Ist es sehr schwer mein Herr?

Gustav Falke

Sie nennt es Schicksal, glückliches Schicksal. Wieder nur 18 Monate. Zu kurz? Lange genug? Hauptsache überhaupt! Das Wunderland lockte mit Verheisungen, neuen Abenteuern, persönlichen Geschichten, fremden Kulturen, Sprungbrett in andere Länder. Das erwies sich nur zum Teil als realistisch. Vieles blieb Traum, Sehnsucht und am Ende Demut, es trotz aller Umstände ausgehalten zu haben. Oft der Verzweiflung nahe, was wird bleiben?

Erinnerungen an einzigartige Erlebnisse, Freundschaften, Wärme im ganzen Körper, aber auch dieses Gefühl von Enge, Angst, Eingesperrt zu sein für 18 lange Monate. Alice nimmt sie alle mit, diese Erlebnisse und trägt sie wie Gedichte im Herzen für immer.

Noch einmal besucht sie die Orte des Wunderlandes, dass sie sich genau so vorgestellt hatte und dann doch immer auf eine neue Art erleben durfte. Das Überraschungen parat hielt und Unerwartetes aus dem Mantel zauberte.

Gewächshäuser, in denen die Pflanzen der ganzen Welt sprießen, sogar Wasserfälle zu bestaunen sind, die doch eigentlich in die Täler und Schluchten der Gebirge fallen sollen. Nebelschwaden ziehen an den üppigen Gewächsen vorbei. Eingesperrter Regenwald, dem geht es wie Alice. Blumen aus Glas, schlafende Hasen aus Pergament, fauchende Drachen in Holz gebannt. Draußen lockt ein runder Himmelsstürmer in seinen Bann. Hin- und Hergerissen zwischen Ablenkungen aller Art.

Der Himmel voller Papiervögel mit den Wünschen der Kinder, Frauen, Männer und Alten darauf. Sie wüsste diesen „Einen Wunsch“ auf Anhieb nicht. Vielleicht, dass noch mehr sehend und staunend und begreifend durch die Welt schreiten sollten.

Des Nachts schleicht Alice um die Gassen des großen Tempels. Laternen säumen das Gebälk, ein Lichtertraum in dunklen Zeiten. Die meisten nehmen gar keine Notiz davon, Touristen kommen schon lange keine mehr, die Einheimischen sitzen mit einer Zigarette im Mund unter dem orangenen Licht und genießen den Feierabend nach Stunden der Arbeit. In den Gassen ist es ruhiger als üblich, Alice findet das schön für den Moment. Auch wenn sie sich manchmal den Trubel vergangener Tage vorstellt, als sich hier Massen durchwälzten, auf der Suche nach … ja nach was?

Das Authentische ist eher in diesen ruhigen Zeiten sichtbar. Menschen mit Sorgenfalten auf der Stirn, weil keine Kunden mehr die Souveniers in den Läden haben wollen. Die um Kundschaft bittenden Restaurantbesitzer, die ihre Räume immer wieder schließen müssen oder nur sehr wenige bedienen dürfen, weil die Menschen Angst haben, sich anzustecken und ohne Musik, Tanz und Freude das Essen nur zum Sattwerden dient und kein Erlebnis mehr ist.

Manch einer von den Verzweifelten schafft sich einen Vogel an, um wenigstens etwas Gesellschaft zu haben. Der arme Pieps ist wirklich zu bedauern, am liebsten würde ihm Alice die Fußfessel abschneiden und ihn davon fliegen lassen. Wer eine Bar betreibt hat Schwein gehabt. Trost suchen die Menschen leider gerne im Alkohol. Manchmal kann man es nicht anders ertragen, was sich die Herren in den oberen Reihen für die Menschen darunter ausdenken, um sie in Sicherheit zu glauben.

Das Mondfest verfliegt so schnell, wie die Frau im Mond mit ihrem Hasen, die der Legende nach dort lebt. Eine von vielen Legenden über das Mondfest berichtet von einem Helden namens Hou Yi, welcher die Erde rettete, in dem er neun von zehn am Himmel stehenden Sonnen niederschoss. Als Dank erhielt er von der Königin des Himmels ein Unsterblichkeits-Elixier. Doch Hou Yi wollte bei seiner Geliebten Chang’e bleiben und ließ sie über den Trank wachen, anstatt ihn selbst zu trinken. Eines Tages versuchte eine Schülerin von Hou Yi in Besitz des Elixiers zu gelangen. Keinen anderen Ausweg sehend, trank Chang’e die Flüssigkeit und schwebte darauf in den Himmel hinauf. Um ihren Mann aus der Ferne beobachten zu können, ließ sie sich auf dem Mond wieder und wird seither am Mondfestival durch Opfergaben um Glück gebeten.

Du mußt glauben, du mußt wagen,
Denn die Götter leihn kein Pfand,
Nur ein Wunder kann dich tragen
In das schöne Wunderland.

Friedrich von Schiller

Es war Alice ein Fest und eine Freude, die Superbäume zu bestaunen. Wie aus einem Science-Fiction-Film erheben sie sich über ihrem Kopf, leuchten und funkeln. Kinder sollten staunend die Köpfe in den Nacken legen und dem Schauspiel zusehen. Lachend zwischen diesen Baumbauten tanzen und singen. Und dennoch vermisst sie beim Anblick der Giganten, das Rauschen der Blätter, wenn sich die Baumkronen im Wind wiegen. Das Klopfen eines Spechts beim Bau seiner Höhle. Das Knacken der Äste, wenn sie durchs Unterholz schleicht. Den Duft des Waldes im Herbst. Den Schauer auf der Haut, wenn sich leichter Nebel darauf niedersetzt. Nichts kann reales Leben ersetzen.

Zwischen den Glitzerfassaden findet Alice gerne die alten Häuser mit den kleinen bunten Kacheln. Genießt beim Schlendern einen Hefebun gefüllt mit Bohnenpaste und bestaunt die bunten Farben der Fassaden. Im Seconhandladen schlüpft sie in Kleider aus den 60er Jahren. Oder doch lieber die goldene Sau? Amos der Straßentiger sitzt wie immer an seinem Aussichtspunkt und ist wohl ebenso jeden Tag auf Neue erstaunt, wieviele Klimaanlagen am Nachbarhaus installiert sind. Trotz Fell scheint ihm die manchmal unerträgliche Hitze nichts zu bedeuten, einfach nicht oder nur langsam bewegen ist eine Devise. Alice wird es ihm nachmachen.

An der Promenade speit der Merlion konstant seine Wasserfontäne zur Freude der Schaulustigen oder der Brautpaare ins Becken. Die in den Himmel hochgeschossenen Wolkenkratzer in seinem Rücken lassen ihn winzig erscheinen. Gegenüber trohnt über allen das Hotelschiff, wie ein gigantisches Ufo. Mit Palmen bepflanzt, die schwindelfrei sein müssen, hoch über der Stadt, ein kleines Stück näher an den Sternen.

Denn ist dem Menschen jedwede Freude in der Brust vernichtet, dann ist sein Leben nur ein eitler Schein, er schleicht nur als ein Toter durch das Leben. Ob ihm der Reichtum füllet Haus und Hof, ob eine Krone um das Haupt ihm strahlt, fehlt ihm der Frohsinn, dann ist alles dies nicht soviel wert als einer Flamme Schatten.

Sophokles

Die Mauern der altehrwürdigen Dame erwarteten Alice. Noch einmal wollte sie eine Reise in einen Teil der Geschichte dieser Stadt antreten, abtauchen für Minuten, Stunden, Tage. Voller Nostalgie, Glanz und Prunk. Frisch renoviert erstrahlt die alte Dame in einer umwerfenden Pracht und es fühlte sich ein wenig wie Heimkommen an, als Alice durch die langen Gänge schreitet, die Zimmertüren an ihr vorbei ziehen. Charlie Chaplin residierte hier also ebefalls, lange her. Freundliche Menschen begegneten ihr. Machten den Aufenthalt zu einem sehr speziellen Erlebnis. Das regnerische Wetter passte perfekt zur Kulisse der weißen Säulen und schwarzen Balken, dem gelungenen Interior aus Alt & Neu. Feinster Tee wärmte ihren Körper und sie fühlte sich sehr willkommen. Die Stunden verflogen, die uralte Uhr im Foyer zeigt die Zeit schon mehr als 140 Jahre an.

Früher konnte die alte Dame sogar das Meer sehen, direkt vor ihrer Haustüre lag der Strand, die Gäste mussten nur die Straße überqueren, um die Füße ins Wasser zu tippen. Heute ist das komplette Ensamble an Gebäuden und kleinen Gärten umringt von der Großstadt und ihren Hochhäusern. Den Gästen bietet der klassisch angelegte Pool eine erfrischende Abkühlung. Und natürlich musste auch Alice vom berühmten Singapur Sling versuchen, sich die Süße und Raffinesse dieses speziellen Drinks auf der Zunge zergehen lassen, der urspründlich als alkoholischer Fruchtsaft getarnt den Damen serviert wurde, die neben ihren Männern auch gerne ein bisschen Spaß haben wollten. In der legendären Longbar steht die einzige Mixmaschine, die extra für die gleichzeitge Herstellung mehrerer Slings konstruiert wurde. Man komme und staune, wenn der Barkeeper sie mit Muskelkraft in Gang setzt.

Zweifel

Ich sitz auf einem falschen Schiff.
Von allem, was wir tun und treiben,
und was wir in den Blättern schreiben,
stimmt etwas nicht: Wort und Begriff.

Der Boden schwankt. Wozu? Wofür?
Kunst. Nicht Kunst. Lauf durch viele Zimmer.
Nie ist das Ende da. Und immer
stößt du an eine neue Tür.

Es gibt ja keine Wiederkehr.
Ich mag mich sträuben und mich bäumen,
es klingt in allen meinen Träumen:
Nicht mehr.

Wie gut hat es die neue Schicht.
Sie glauben. Glauben unter Schmerzen.
Es klingt aus allen tapfern Herzen:
Noch nicht.

Ist es schon aus? Ich warte stumm.
Wer sind Die, die da unten singen?
Aus seiner Zeit kann Keiner springen.
Und wie beneid ich Die, die gar nicht ringen
Die habens gut.
Die sind schön dumm.

Kurt Tucholsky

Ihr Liebstes bleiben dennoch die Ecken in der Stadt, die gerade nicht perfekt sind. Genau diese wird Alice am intensivsten vermissen. Das einfache Leben, den Alltag der Menschen in diesen Gegenden, die unterschiedlichen Stile in der Architektur, das komplette Gegenteil der Glitzerfassaden in der City. Hier ist nichts perfekt, der Zufall spielt seinen Charme in vollen Zügen aus. Hier kann Alice stundenlang dem Treiben zuschauen, kleine Schätze entdecken, an denen viele einfach vorbeilaufen. In authentischen kleinen Speiselokalen die Köstlichkeiten der unterschiedlichsten Küchen ausprobieren. Was wäre diese Stadt nur ohne diese Viertel?

Es wird Zeit für Alice „Ade“ zu sagen und das Wunderland zu verlassen. Hin- und Hergerissen zwischen Abschiedsschmerz und Vorfreude, Wehmut und Erwartungen. Es kommt immer wieder eine neue Herausforderung um die Ecken, und manchmal einfach zu früh, als eigentlich geplant. Das Leben schenkt einem Erfahrungen und Alice nimmt sie dankbar an, jede Einzelne. Freunde gefunden, Freundschaften geschlossen, die halten mögen und sich tragen auch über Kontinente hinweg. Freude erlebt, Trauer gespürt, Hoffnungen gehegt, Enttäuschungen ausgehalten, auch Gefühle brauchen Achterbahnfahrten, sonst spürt man es nicht, das Leben in all seinen Facetten.

Abschied

Ein Gedicht für alle Tage
ist nicht leicht zu schreiben.
Was sei denn so alltäglich,
um in Erinnerung zu bleiben?

Was kann man schreiben,
wenn man geht,
gegen die Vergessenheit,
die mit der Uhr sich weiterdreht?

Für alle Tage wünsch ich Glück,
Kraft und Zufriedenheit.
Und schaut dahin, wo alles vor Euch liegt.
Das Gestern ist so weit.

Das Morgen ist voll Abenteuer,
voll neuer Chancen für das Leben.
Doch diese Zukunftsperspektive,
würde es ohne Vergangenheit nicht geben.

Drum schreib ich auch dazu ein paar Zeilen,
für jeden Tag mit Euch ein Danke.
Es war so schön, so lehrreich, schwer,
daß ich noch manchmal etwas wanke.

War die Entscheidung wirklich gut?
Es gab wie immer der Wege zwei.
Und neue Wege sind noch nicht so ausgetreten,
das macht sie schwierig, doch uns selbst auch frei.

So gehen wir weiter unsrer Wege,
die sich heute trennend schneiden.
Doch wer weiß, ob sie nicht eines Tages,
sich wieder kreuzen und begleiten.

Katja Uhlich

Die letzten Wochen wird Alice nutzen, genießen, gestalten. Freunde treffen, Umarmungen und Geschenke verteilen; noch einige Brote in den Ofen schieben; den einen oder anderen Kaffee oder eine scharfe Laksa-Suppe schlürfen. Endlich die echten Filme in die analogen Kameras einlegen und belichten, hoffentlich einige Singapurer dazu bringen, ihre Maske für ein Foto abzulegen.

Dann wird Alice ihren Koffer packen, „ByE ByE Singapur“ flüstern und nach 521 Tagen oder 12.504 Stunden das Wunderland verlassen. Erinnerungen im Gepäck, Freude im Herzen, Aufregung in der Seele für einen weiteren Neubeginn.

EXTRO

Für den Einen!