Paris Passion – Tag 2

Die erste Nacht ist kurz, der Morgen noch nicht in der Stadt, Ruhe herrscht im Hotel, in der Metro und auf den Straßen. Nur Fotoverrückte sind jetzt unterwegs und einige wenige Menschen, die arbeiten müssen oder die Nachtschicht beendet haben. Bis zum Ende der blauen Stunde bleibt ihr Zeit, das frühe Licht und die Beleuchtung ausgewählter Orte einzufangen. Es ist frisch, ein zarter Wind streicht um die Ecken, schickt winzig kleine Wellen über den den Fluss. Die Ausflugsboote liegen am Kai und schlafen, vielleicht träumen sie davon, einmal auf einem richtigten Meer oder Ozean fahren zu dürfen.

Seelen

Du weißt, wir bleiben einsam: Du und ich, Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht, Mit freien Kronen, die der Seewind küßt … So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei. Doch zwischen beiden webt ein feines Licht Und Silberduft, der in den Zweigen spielt, Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin … Paul Wertheimer

Und weil sie etwas Bewegung in diesen Morgen legen möchte, die Starre aufheben und die Lichter tanzen lassen möchte, probiert sie sich ein bisschen aus. Wischt hier und da die Lichter, wie ein Maler auf der Leinwand seinen Pinsel mit ihrer Kamera über die Brücken, Gebäude und das Wasser.

Auf dem Heimweg biegt sie noch in einen versteckten Platz umringt von den typischen Häusern in Paris ab. Hier tummeln sich demnächst wieder Besucher und Einheimische, die Tische und Stühle besetzen werden, die gerade noch gestapelt und aufgereiht wie eine stumme Armee auf den Einsatz warten. Ein Fahrrad liegt fast wie erschöpft von einer durchtanzten Nacht lässig an einem Baum und schläft seinen Rausch aus.

Pünktlich zum Sonnenaufgang gehen die Lichter der Stadt aus. Der neue Tag steht in den Startblöcken. Die Stimmung schaltet wie der Lichtschalter von Ruhe auf Hektik. Sie taucht ab in die Metro, versucht diese Stille noch ein bisschen im Kopf und Körper zu halten. Ein Café au Lait zum Croissant …

Die Prachtstraße Champs-Élysées gleicht gegen Nachmittag einem Ameisenhaufen. Zwischen Autos, Bussen, Fahrrädern, Rollern und vielen Menschen, ist kaum ein Durchkommen. Sie mag das ab und zu sehr gerne, im Gewusel zu verschwinden, unterzutauchen, Teil der Masse zu werden. Niemand nimmt Notiz von ihr und der Kamera. Ihr Augenmerk gilt in Paris auch den Beinen, die jeden Tag jede Person durch diese Stadt tragen. Viele Wege zurücklegen und dabei immer den Zeitgeist wiederspiegeln. Die Mode, ein Statement oder Gleichförmigkeit, den eigenen Stil, die Tages- oder Jahreszeit, meistens das Geschlecht und das Alter preisgeben, ohne die gesamte Person zu sehen.

Hektik herrscht hier wahrscheinlich immer. Sie sieht den Menschen zu, wie sie die Schaufenster der großen Markenläden bewundern oder eine Tüte mit Neuem nach Hause tragen. Eilig von einer Straßenseite auf die andere laufen und dabei ein Foto des berühmten Arc de Triomphe de l’Étoile aufnehmen, der sich Mitten auf dem riesigen Kreisverkehr in den Himmel erhebt. Zu Ehren Napoleon errichtet, heute Gedenkstätte und Aussichtsturm. Später wird sie die vielen Stufen der Wendeltreppen nach oben steigen. Gerade findet eine Parade statt, mit Fahnenträgern, Musikkapelle und Kranzniederlegungen. Die Straße wird für einige Minuten gesperrt. Sie nimmt für eine Weile Platz auf einer Bank, um den gigantischen Torbogen zu bestaunen, hinter dem sich langsam die Sonne verabschiedet.

Es herrscht eine aufgeregte Stimmung, die dennoch friedlich wirkt angesichts der Weitsicht, des warmen Lichts, dass sich zu allen Seiten wie eine warme Decke über Paris legt. Geräusche dringen fast nicht mehr nach oben, sie lässt sich mitnehmen von dieser Atmosphere, genießt den unendlich scheindenden Blick über die Stadt und findet irgendwann eine kleine Lücke zwischen den Menschentrauben, um direkt an der Brüstung zu stehen. Sternförmig laufen die Straßen direkt auf den Torbogen zu, die ehrwürdigen Gebäude sehen mit Beleuchtung noch schöner aus. Natürlich will sie den Eifelturm sehen, der weniger als zwei Kilometer entfernt in den Abendhimmel empor ragt.

Viele verschiedene Nationen sind heute Abend hier auf dem Dach dieses Denkmals vereint. Sie stehen eng beisammen, teilen gemeinsam einen vielleicht einmaligen Augenblick in ihrem Leben. Ihre Hoffnung, das dieser Moment Einigen von ihnen für lange in Erinnerung bleibt und nicht nur ein Foto auf dem Telefon bleibt, nimmt sie gerne mit hinab. Die Stadt der Liebe spielte heute einen Trumpf aus, der die Herzen und die Gedanken friedlicher werden lassen könnte.

Das Glück ist ein Traum in der Nacht Und eine Illusion am Tag Es ist eine Gedanke voll Hoffnung Und ein Wunsch des Herzens, Der nach Erfüllung verlangt. Doch wie oft tritt das Gegenteil der Erfüllung ein. Es ist ein Gesang, der an unser Ohr tönt, Ohne daß unser Herz ihn versteht.

Khalil el Khatib

Paris Passion – Tag 1

Die Frage, warum sie erst knapp vor ihrem 50. Geburtstag Paris mit dem ersten Besuch in ihrem Leben beehrte, kann sie sich selbst nicht beantworten. Vielleicht wollte sie das liebgewonnenen allgegenwährtige Bild von der Stadt der Liebe, der Romantik, der Kunst und des freien Lebens nicht verlieren. Nicht enttäuscht werden, wenn dieses Bild in ihrem Kopf nach zahlreichen Berichten, Filmen und Texten ein ganz anderes, zu realitstisches Bild des Hier und Jetzt werden würde. Dennoch schlug das Herz sofort höher, als die Idee geboren war, der Termin feststand und der TGV im so schön klingendenen Gare de l’Est einfuhr. Und als sie den typisch kleinen Balkon ihres Hotelzimmers im 5. Stock betrat, um den Blick hoch über de Rue Pierre Semard schweifen zu lassen, konnte sie sehen, dass die Realität des Hier und Jetzt ganz wunderbar war.

Paris fühlte sich an wie eine schon immer dagewesene tiefe Liebe. Es war wie ein Wiedersehen mit einer noch Unbekannten. Alles strahlte dort in ihr, diese dichte Atmosphäre aus Trubel, Schönheit, Licht und Wärme füllte sofort ihren Körper und ihre Seele aus. Jeder Blick fühlte sich an, als ob sie die Geschichte dahinter sofort in sich aufsaugen musste. Es errinnerte sie an ihren Lieblingsfilm, im dem dieser Zustand, die Hauptdarstellerin alles Erlebte, Sichtbare und Unsichtbare in hörbaren Gedanken für die Zuschauer beschreibt.

„Ein Mann sitzt mit gelb karriertem Basecap auf einem der fünf knallgelben Plastikstühle in der Metrostation, lässig hat er sein rechtes Bein übergeschlagen, in seiner Hand hält er ein Telefon, auf dem gerade die Nachricht eingeht, dass sein bester Freund vor einer Stunde seine Beziehung beendet hat. Leider kann er den erstaunten Gesichtsausdruck der über ihm auf der Plakatwand abgebildeten jungen Frau, die Webung für ein großes Kaufhaus macht, nicht annähernd so gut nachahmen, obwohl das im Angesicht dieser Nachricht angemessen wäre.“

Ein erster Ausflug in die unbekannte und doch irgenwie vertraute Stadt führt sie zum Place de l’Hôtel de Ville, dort steht das impossante Rathaus, erbaut im Stil der Neorenaissance. Am Nachmittag wird dieser Ort von Einheimischen und Touristen umsäumt. Eilig hasten einige am prachtvollen Gebäude vorbei, an dessen Fassade noch Spuren von den Olympischen Spielen im August zu sehen sind. Eine Schar Kinder ist verzaubert vom Seifenblasenkünstler, der immer wieder große oder kleine bunt schimmernde Illusionen in die Luft entlässt, deren Leben schon nach Sekunden zerplatzt.

„Ein Paar läuft Hand in Hand von links nach rechts, sie trägt einen weißen Rock zum roten Pullover. Es fehlt nur die blaue Mütze für die Farben der französichen Flagge. Ganz in schwarzem Leder gekleidet steht eine Frau mit ihrem Fahrrad geduldig an einer roten Ampel. Eine andere Frau trägt gelbe Schuhe mit schwarzen Streifen und macht ein Foto vom Rathaus. Schnellen Schrittes schlängelt sich eine Frau bekleidet mit einem weißen Tüllrock mit roten Tupfen zwischen den Menschen hindurch. Wahrscheinlich hat sie deshalb die Laufschuhe an. Sie alle begegnen sich für einige Sekunden an diesem Ort , bevor sie wieder in ihren Leben verschwinden. Vermutlich haben sie nicht einmal Notiz voneinander genommen, nur ihre Kamera hat diese Momente festgehalten.“

Yonathan strahlte sie an wie eine außerirdische Sonne, das Gelb seiner Jacke tat fast schon weh in ihren Augen und passte doch so wunderbar zum Plakat auf der Litfaßsäule hinter ihm. Und, er rauchte! Sie musste ihn ansprechen, weil es ein Thema für Paris war, Raucher vor die Kamera zu bringen. Er fand es außergewöhnlich, dass sie sich dafür interessierte. Sie wusste, dass die Kamera ihr schon oft die Kontaktaufnahme erleichtert hatte und dankte ihm mit dem Versprechen die Bilder nach ihrer Rückkehr zuzusenden .

Notre Dame – Unsere Liebe Frau – nur von außen zu Bestaunen. Der Brand wurde gelöscht, die Wunden zu heilen dauert länger. Kräne ragen um die Kathedrale in den Himmel, was ihrer Schönheit dennoch keinen Abbruch tut. Sie nimmt Platz auf der temporären Tribüne gegenüber dem Hauptportal und versinkt in die detailreichen Verzierungen, die Steinmetze und Bildhauer Jahrzehnte lang geformt haben.

„Die Taube hat sich aufgeplustert im Schlaf, vielleicht findet es sie gemütlicher so, nimmt keine Notiz von den vielen Menschen um sie herum. Geliebt, gehasst, verehrt, verachtet … das ist ihr gerade egal. Sie balanciert mit den roten Beinchen auf dem Geländer. Wenn es ganz still wäre, könnten alle ihr leises Schnarchen hören. Können Tauben schnarchen? Dem bärtigen Mann mit Brille und blauer Jacke scheinen die Taube und die Kirche nicht zu interessieren. Er steht direkt im Sichtfeld aller Zuschauer, gefangen im Nachrichten-Bilder-Strom, der unaufhörlich seine Aufmerksamkeit fordert.“

Der Weg führt entlang der Seine, dem ewigen Strom durch die Stadt. Sie sieht Boote voll mit Menschen. Brücken so weit das Auge reicht. Die Uferseiten bebaut mit herrlichen Gebäuden. Es ist ein Gewusel! Von allen Seiten Passanten, Hunde, Fahrräder, Autos, Geräusche, Musik, Düfte, Bilder, Geschichten. Pures Leben.

Sie mag diese Mischung aus Allem. Diese Vielfalt der Kulturen, die sich locker und leicht zu vermischen scheinen. Selbst auf den Fahrrädern sind die Menschen mit Stil unterwegs, jede Straße und Gasse wie ein kleiner Laufsteg. Keiner wird bewertet. Die kleine Combo auf der Insel Saule Pleureur de la Pointe unterhalb der Pont Neuf probt unter freiem Himmel. Die Musik ist weit entfernt noch zu hören, hat Kraft und Energie. Ein Moment, genau richtig, ihn jetzt in ihrem warmen Herz zu verankern.

„Im Oberdeck vom Bus scheint die Sonne etwas länger in die Gesichter der Passagiere. Der junge Mann mit Mütze und Kaputze über dem Kopf scheint schon zu frieren auf dem Weg zu seiner Verabredung. Einsam baumelt ein hellbrauner Schuh an einem Laternenpfahl, lost and never found. Lässig auf dem Geländer sitzend wartet der Junge mit seinem Rad unweit der Brücke. Der nächste Song in seinen Ohren wird Ne te regarde pas sein“

Der Blinde

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt, die nicht ist auf seiner dunklen Stelle, wie ein dunkler Sprung durch eine helle Tasse geht. Und wie auf einem Blatt ist auf ihm der Widerschein der Dinge aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein. Nur für sein Fühlen rührt sich, so als finge es die Welt in kleinen Wellen ein eine Stille, einen Widerstand -, und dann scheint er wartend wen zu wählen: hingegeben hebt er seine Hand, festlich fast, wie um sich zu vermählen.

Rainer Maria Rilke

Herbst Haiku

Der Herbst kommt nahe.
Das Herz erfüllt von Sehnsucht:
Viereinhalb Matten

Matsuo Basho

Nichts zu tun,
Nichts zu wünschen,
Regen auf den Fenstern.

Ozaki Hosai

Diesen Herbst
altere ich mit dem Kürbis
und den Vögeln in den Wolken.

Matsuo Basho

Auf diesem Weg
Kein Reisender weit und breit –
Herbstdämmerung.

Yosa Buson

Als der Mond und ich
etwas überlegen wollen,
kommen Wolken auf

Kato Kyotai

Herbstwind –
die Melancholie kommt
kalt und ruhig.

Onitsura

Klagt nicht, Wildgänse!
Überall ist ´s die gleiche
vergängliche Welt.

Issa

Voller Mond im Herbst!
Um den Teich bin ich geirrt,
eine ganze Nacht.

Matsuo Basho

Ihre Rückseiten zeigen sie,
Dann ihre Vorderseiten,
die fallenden Ahornblätter.

Ryokan

Ruhe vor dem Sturm

Wahrscheinlich ist die Dame am Morgen schon im erfrischenden See geschwommen, bevor sie uns mit ihrem bezaubernden Lächeln einen guten Tag wünschte und uns die wenigen Münzen abkassierte, den dieses Bad als Eintritt verlangt. Vermutlich schwimmt sie hier schon ihr Leben lang und verdient sich jetzt in ihrem Ruhestand ein bisschen was dazu oder ist einfach nur froh, unter Menschen sein zu dürfen, die immer gut gelaunt und voller Erwartungen auf einen entspannten Sommertag am Wasser in dieses ehrwürdig anmutende Strandbad kommen.

Der See schimmert türkis unter der schon kräftig strahlenden Sonne. Verteilt über die Bucht kann man Segelboote erkennen und die Ersten sind schon auf dem Weg zur höhen Plattform, um sich von oben, wieder in die Tiefe zu stürzen.

Am Kios duftet es nach frischem Cappuccino und warmen Brezeln, Davide begrüßt seine Stammgäste persönlich und hat ein unbeschwertes Lächeln auf seinen Lippen. Er ist nur im Sommer hier, die Winter verbringt er ein Italien, um aus seinen dort angebauten Oliven feinstes Öl zu pressen.

Das Kernstück des Bades ist der hundertjährige denkmalgeschützte Holzbau mit seinen zum See blickenden Kabinen. In der oberen Etage gibt es eine lange Reihe am Umkleiden, in denen sich sicherlich ab und an ein Liebespaar versteckt, um Zärtlichkeiten auszutauchen. Die Dielen knarzen bei jedem Schritt, von der Liegewiese her hallen Geräusche der Besuchen herauf. Die Temperatur ist dort noch einen Tick höher. Das Licht scheint gedeckt in die meeresblau gestrichene Höhle. Keiner stört diese heimlich dem Alltag gestohlene Stunde.

Mein Kummer ist meine Ritterburg, welche wie ein Adlernest hoch oben auf des Berges Gipfel in den Wolken liegt.

Søren Kierkegaard

Feiern konnten sie schon immer, in den Tälern des Montafons. Daran ändert sich nichts im 21. Jahrhundert. Auch wenn sich die Herberge der Gäste direkt neben dem Festzelt befindet. Die örtliche Feuerwehr ruft nur einmal aller vier Jahre zu Musik, Tanz und Gesang bei reichlich Trank und Speiß. Entweder es wird mitgefeiert oder es gibt eine schlaflose Nacht unter dem warmen Dach des alten Holzbaus. Beides führt am nächsten Morgen zu schwerem Kopf, bei den Feiernden wohl ausgeprägter. Aber der Blick auf die Gipfel, über denen sich die weißen Wolkenberge auftürmen, entschädigt alles.

Herrscht Nebel am Berg ist die Vorstellungskraft gefragt. Man muss sich das Panorama denken, nicht hadern mit der Situation und das nahe Liegende entdecken, welches man vielleicht sonst außer Acht gelassen hätte, vor grandioser Kulisse. Das Glockengeläute verrät die Kühe, bevor sie wie Gespenster im Nebel hinter einem Stein erscheinen. Ihnen reicht das taufrische Gras und die Kühle am Hang, heiße Sommertage gibt es jetzt viel zu oft auf den Almen.

Wildblumen in allen Variationen säumen die schmalen Wege, der ergiebige Regen ist ein Segen für die Pflanzen und Insekten. Auch die Betreiber der kleinen Alpe freuen sich darüber und dekorieren ihre Tische und den Montafoner Sura Kees damit. Wer ihn nicht probiert verpasst eine der ältesten Käsetraditionen der Alpen. Bereits im 13. Jahrhundert wurde dieser Sauerkäse hier hergestellt. Angemacht mit Kernöl und Essig auf frisch gebackenem Brot – ein kleines Gedicht.

Seht nur! Selbst die namenlosen Berge

hat der Frühling heute

mit Nebelschleiern zärtlich bedacht.

Matsuo Bashõ

Schon am nächsten Tage steht dem geplanten Gipfelglück nichts im Weg. Die Sonne wärmt Mensch und Tier zügig auf, statt Regenjacken lieber eine Flasche Wasser mehr einpacken, ist immer eine gute Idee. Schneller als geahnt werden wir uns die Kühle des vergangenen Tages wieder zurück wünschen.

Ich habe wohl auch meine Zeit an die Großartigkeit unserer Epoche der Technik geglaubt, aber jetzt fühle ich nur noch das Eine: daß sie die Erde entzaubert, indem sie alles allen gemein macht.

Christian Morgenstern

Schon lange muss der Naturfreund in den Bergen damit leben, dass die Technik Einzug gehalten hat. Erst um den Bergbauern die Arbeit auf den Almen zu erleichtern. Aber parallel dazu auch, um die vielen Touristen schneller und ohne Anstrengung auf die Berge zu befördern, zu verköstigen, zu bespaßen und die Abfahrt auf allerlei Sportgeräten zu ermöglichen. Nur wenige wandern direkt vom Tal hinauf auf die Gipfel oder hinunter ins Tal. Selbst mit Kinderwagen und Rollator kann die Bergluft und die Aussicht genossen werden. Wer das Ursprüngliche sucht geht die lieber einsameren Wege, auf denen sich bis zum Ziel nur Wenige begegnen. Kleine Alpen bieten gekühlte Getränke und einfache Kost an, um neben der Almbewirtschaftung zusätzliche Einnahmen zu haben. Hier spielt selten Musik aus Boxen und wenn dann der Heimatsender. Der Sommer wird mit jeder Stunde für die Arbeit genutzt, Wochenenden gibt es augenscheinlich nur im Winter, für den das Holz jetzt schon gespalten wird. Vermutlich sind die Menschen dann aber an den Seilbahnen und Liften für die Skifahrenden beschäftigt, die besonders an den Wochenenden zahlreich kommen.

Es ist eine wahre Hitzeschlacht, die Sommer werden im Gebirge ebenso wärmer und das Wandern anstrengender. Jeden kleinen Schattenfleck nutzen wir für eine Pause, jedes kleine Rinnsal zur Abkühlung des Nackens oder dem ganzen Kopf. Freiluftduschen sind sehr willkommen. Nach mühevollen Stunden erreichen wir den Gipfel, der bereits von einigen anderen Wanderern belagert wird. Familien mit Kindern, Paare … Eine Gruppe junger Abenteurer klettert von Stein zu Stein auf der Suche nach dem besten Fotopunkt. Übermut, der fast tragisch endete, nachdem sich eine große Steinplatte gelöst hatte und abrutschte. Schreck und eine Platzwunde am Bein, der Schock steckte bestimmt länger im Körper. Andere stehen zum Küssen am Abgrund, das hätten wir vor 30 Jahren wohl selbst auch getan.

Den zweiten Gipfel lassen wir rechts liegen, bevor wir mit der futuristisch anmutenden Gondel ins Tal hinunter schweben. Die Scheiben sind eingefärbt und lassen die Außenwelt in einem gelb-orangen Licht erscheinen. Es wirkt als sei man auf einem fremden Planeten gelandet. Das Gefühl, dieser ganze Zirkus am Berg ist irre, verstärkt sich in einem. Natur vs. Mensch – ein ewiger Kampf – bis jetzt steht der Gewinner nicht fest. Und ich frage mich, wer von Beiden hat den zauberschönen Herz-See erschaffen?

Die höchste Richterin über alle Irrtümer der Vergangenheit und Gegenwart und die einzige Prophetin der notwendigen Zukunft ist die große Natur, in der wir ruhen wie die Erde in den sanften Armen der Atmosphäre.

Ralph Waldo Emerson

Teil dieses Irrsins zu sein ist eines der Gefühle, die ich am liebsten verdrängen möchte. Der Lünersee war bis 1925 ein alter Bergsee, der durch die errichtete Staumauer zum Stausee wurde, um Energie zu gewinnen. Die braucht es nicht nur für die Einheimischen und die Betriebe im Tal, auch die Seilbahnen im schönen Brandnertal wollen mit Strom versorgt werden, um Touristen im Sommer wie Winter auf die Höhen zu bringen. Ich schätze, 90 % der angereisten Ausflügler sind mit der Gondel in knapp 10 Minuten zum türkisblauen See nach oben geschwebt. Wir wählten die Wanderung über den „Bösen Tritt“, deren Name dem Weg nicht ganz gerecht wird. Ja es ist teilweise etwas steil und abschüssig, aber nach gut 1 Stunde war es geschafft. Sogar ein Bergläufer „sprintete“ wie eine freche Gams an uns vorbei uns schaffte es in knapp 30 Minuten hinauf.

Die Bilder täuschen Idylle vor, wo bei genauer Betrachung irgendwie doch keine ist. Im See darf nicht geschwommen werden, das Restaurant neben der Staumauer ist eher ein Massenabfertigungsbetrieb. Gut, man hätte zur Almhütte auf der gegenüberliegenden Seite laufen können, allerdings haben das alle vor, die hier mit der Seilbahn angekommen sind und noch etwas wandern möchten. Den Knien zuliebe schwebten wir bergab um auf einer anderen Almhütte unseren Hunger zu stillen. Im Kopf stelle ich mir vor, wie es mit dem Bergsee und ohne die Lastenbahn hier führer ausgesehen haben könnte …

„Der Lünersee gilt dem gemeinen Manne als ein geheimnisvolles, unergründlich tiefes Wasser. Als einmal einer ein Senkblei in denselben warf, so rief ihm aus der Tiefe eine Stimme entgegen: Ergründest Du mich, so verschlinge ich dich. In ihm hausen nach der Vorstellung des Volkes mancherlei Ungethüme, und viele Geister wurden von Kapuzinern und anderen frommen Priestern in den See verbannt. Es geht auch die Prophezeiung, er werde einmal ausbrechen, sein Wasser werde alsdann bei der Bludenzer Kirchenstiege bis zur siebten Kirchenstufe hinaufreichen und der ganze innere Walgau werde überschwemmt sein; bisher sei ein Ausbruch nur durch einen ungeheuren Felsblock gehemmt, der mit mächtigen eisernen Klammern an die unterirdische Öffnung angeschmiedet sei.“
Aus Franz Josef Vonbun: „Sagen Vorarlbergs“, 1889

Hast du die Illusion der Freiheit durchschaut, Hast du eine Illusion verloren Und die Freiheit gewonnen.

Andreas Tenzer

Die Sommerfrische in den Bergen findet sich in den Schluchten. Der Planet heizt sich unaufhörlich auf, er misst keine Temperaturen, wie seine Bewohner. Bei über 30 Grad auf Gipfel zu steigen muss man wollen und können. Familien mit Kindern, ältere Menschen und wir beiden Frauen suchten die Abkühlung ist der Schlucht, die vom fließenden Wasser Jahrmillionen durch die Felsen getrieben wurde. Das Wasser ist so kalt, dass es an eiskalte Saunatauchbecken erinnert. Es ist herrlich diese Kälte einfach für einige Minuten auszuhalten und das Kribbeln am ganzen Körper zu spüren. Die Bergrettung übt mit ihrer Hundestaffel die Bergung von Verletzten. Mensch und Tier sind heute hier im Tal der Bürs besser aufgehoben.

Kurz vor unserer Anreise ereignete sich ein Bergsturz, der einen Abschnitt der Silvretta Hochaplenstraße unter sich begrub. Die beliebte Verbindungsstraße zwischen dem Montafon und Paznauen wurde unpassierbar und wird es eine Weile bleiben. Tonnen an Geröll kamen den Berg in Sekunden herunter und rissen auch Bäume mit in die Tiefe. Kein Durchkommen mehr für Fahrzeuge aller Art. Für die Touristen auf beiden Seiten der Strecke bedeutet dass, einen großen Umweg in Kauf zu nehmen, wenn sie von Vorarlberg nach Tirol oder umgekehrt reisen wollen. Für die Einwohner des Montafon-Tals eine Katastrophe, besonders für die Tourismusbranche. Buchungen wurden storniert, Tagesgäste bleiben aus, die oft nur für einen Ausflug auf die Biehler Höhe kommen, welche jetzt unerreichbar ist. Für uns stand eine Absage nicht zur Diskussion, der Famienbetrieb des gebuchten Hotels kann am wenigsten für dieses „Unglück“. Es gibt genug Wanderwege und Ausweichmöglichkeiten auf dieser Seite.

Die Tour zum Wiegensee und zur Verbellaalpe klang vielversprechend. Mit der Tafamuntbahn ging es 500 Höhenmeter hinauf. Der nette Mensch, der heute die Bahn nach oben schweben ließ, wartet extra auf uns, damit wir noch mitfahren konnten. Man hat hier immer das Gefühl, sehr herzlich Willkommen zu sein.

Mit Sonne erreichten wir den ersten Aussichtspunkt, von dem aus wie den Felssturz (Murenabgang) am linken Berghang betrachten konnten. Die ersten Wolken zogen auf und verschafften etwas Abkühlung. Je näher wir dem im Hochmoor gelegenen kleinen See kamen, desto dunkler wurde es und erste Regentropfen kitzelten auf Gesicht und Armen. Die Stimmung wurde mystisch, die Schritte etwas schneller. Bis zur ersehnten Alpe zog es sich und der Regen nahm zu, Nebelschwaden schlichen sich wie Grüße aus der Unterwelt in die Hochebene und versperrten uns teilweise die Sicht.

Diese kleinen Baumwollpflanzen wirken wie aus dem Märchen entwachsen und erinnerten mich an die Hochebene in Norwegen, wo sie ebenfalls sehr zahlreich ihre weißen Köpfe in den Himmel streckten. Ob mal daraus auch Wolle spinnen könnte?

Eine warme Stube mit etwas Suppe oder einem Tee kam da genau richtig, aber sie war so winzig, dass alle Sitzplätze schon von anderen Wanderern belegt waren und sogar Stehen unmöglich war. Es blieb nur der Abstieg ins Tal, über die etwas bequemere aber längere Forststraße. Wir trafen die Wanderer wieder, die wir am Wiegensee erstaunt gefragt hatten, von wo aus sie gekommen sind, und sie uns das ebenfalls fragten. Der Kops Stausee war von der Tiroler Seite weiterhin per Fahrzeug erreichbar. So planten einige der Besucher die Wanderung ins Montafon von dort aus. Mit Sonne erreichten wir unseren Zielort Parternen und ließen uns den frisch gebackenen Kaiserschmarrn und die Jausenplatte schmecken.

schon wieder ein Tag – verschwunden einfach weg dabei hatte ich ihn heute Morgen erst gefunden am üblichen Fleck und jetzt ist er weg wo wandern sie hin wo sammeln sie sich Berge müssen das sein liegen sie einfach nur da oder unterhalten sie sich wie es so war schon wieder ein Tag einfach weg verschwunden

Anke Maggauer-Kirsche

Am letzten Morgen umrunde ich einen kleinen Teil des Dorfes. Die Kirche im Herz stehend, den kleinen Friedhof daneben. Zum Wasserfall führt ein Kreuzweg an den Stationen Jesus vorbei. In einer kleinen Grotte segnet die dort stehende Marienstatue vorbeikommende Pilger. Kerzen können gespendet werden. Das Wasser fällt ohne Unterlass aus dem Fels steil bergab, ein ewiger Strom. Ein Sinnbild für die stetig verinnende Lebenszeit. Dem Sommer wird bald der Herbst folgen. Die Menschen auf den Alpen werden ihr Vieh ins Tal treiben und die Türen bis zum nächsten Frühsommer abschließen. Ein ewiger Kreislauf … ein schöner Kreislauf. Was wäre das Leben ohne Kommen und Gehen? Nichts!