Das unerwartete Stadtgespräch

Die Freundschaft vermehrt das Gute und verteilt das Schlimme: sie ist das einzige Mittel gegen das Unglück und ist das Freiatmen der Seele.

Baltasar Gracián y Morales

Die Freundschaft und „The Gällery“, die Freunde und Frau Amos ziehen mich in die Landeshaupstadt BW. Stuttgart muss man wollen oder ihr eben immer wieder eine neue Chance geben. In den Kessel geht es mit der Bahn, die anderen Gäste warten geduldig an der Bahnsteigkante. Nur fliegen ist wohl doch nicht schöner.

The Gällery (Raum für Fotografie) befindet sich in den Räumen der Neuen Staatsgalerie. Seit den Bauarbeiten des Jahrhundertprojektes 2021 (Neubau des Hauptbahnhofes seit 2010, Fertigstellung wohl 2025) ist der Kessel ein einzige Baustellen-Umleitungen-Verkehrskatastrophe. Zu Fuß geht es am schnellsten, über den Schloßpatz, vorbei an der Oper und dem Landtag, durch eine Unterführung, erreichen wir das Gebäude. Der postmoderner Bau des Architekten James Stirling wurde 1984 errichtet und gilt als Meisterwerk dieses Stils in Deutschland.

Viele Worte machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist überall das untrügliche Zeichen der Mittelmäßigkeit; das des eminenten Kopfes dagegen, viele Gedanken in wenig Worte zu schließen.

Arthur Schopenhauer

Griechische Flaggen in Stuttgart? Wir hatten eher mit einer Demonstation für/gegen Israel an diesem Tag gerechnet. Die ganze Stadt erschien in blau-weiß oder den traditionellen Uniformen in rot-weiß. Viele Menschen säumten die abgesperrten Straßen. Anastasia war mit ihrer Familie gekommen und lachte so freudig, dass ich sie ansprach, um zu erfahren, was hier heute stattdfindet. Die griechische Nationalgarde hielt eine Parade ab, an der sich auch Schulen, Vereine und Organisationen beteiligten. Daher waren viele Menschen aus der Umgebung gekommen, die dieses Schauspiel sehen wollten.

Eine Woche später lösten wir das Geschenk für den Geburtstag unserer Freunde ein und waren gespannt auf eine kulinarische Stadtführung durch den Stuttgarter Westen. Frau Amos empfing uns an der Johanneskirche direkt am Feuersee. Die Gruppe war überschaubar und sogar ein Hund durfte mit. Spannendes aus der Historie dieses Stadtteils, seiner Architekur und den Bewohnern erwartete uns. Souverän weckte Frau Amos unser Interesse und beantwortete Fragen, blieb nicht unpolitisch und auch kritisch zur Umgestaltung der Stadt (Applaus!!). Ich mochte diese Art und dieses Engagement, mit der sie uns durch zumindest für mich unbekannte Straßen führte.

Die Künstler kamen aus der Provinz in die Städte, weil man die Stadt braucht, um an ihr zu wachsen, und die Provinz, um zu gedeihen.

Roger Blacan

Auch in Stuttgart scheiden sich die Geister am Verkehrskonflikt (Rad vs. Auto).

Zeit für einen Kaffee und eine kleine Stärkung in der hippen Rösterei Mókuska in der Johannesstraße. Köstlich.

Wer Stil hat, überlebt alle Epochen.

Fritz P. Rinnhofer

Überall in der Stadt finden sich kleine Geschichten. Man muss nur sehen, hören, riechen – sich einfach mit allen Sinnen aufmerksam dem Treiben hingeben. Ich liebe es diese kleinen Momente einzufangen und zu konservieren.

Baulich findet sich sehr unterschiedliches in Stuttgart. Der Krieg hat auch hier viel zerstört, aus vorherigen Epochen sind dennoch einige Schmuckstücke erhalten geblieben. Auch Neues entsteht immer wieder. Interessante Wohnkonzepte, die alle Generationen mitnehmen und sich mit ruhigen autofreien Innenhöfen so gar nicht nach Großstadt anfühlen.

Wer Lust hat in das kleine Reich der feinen Kost einzutauchen, sollte einen Abstecher in den Feinkostladen Panzer in der Arndtstraße machen. Seit 1980 gibt es dort alles was das Herz begehrt mit herzlicher Beratung von Silvia Panzer und ihrem Team. Die dort servierte Suppe und das Dessert waren ein Traum. Nicht ohne einen Einkauf kommt man hier wieder heraus.

Mit Ost und West werden wir in dieser Gesellschaft schon klarkommen. Schwieriger wird es mit ›oben‹ und ›unten‹.

Regine Hildebrandt

Im „Le Tonneau Bistro“ in der Eberhardstraße endete die Tour. Dominique Gueydan, der Besitzer des sehr typsich französischen kleinen Restaurants verwöhnte uns mit Wein, Oliven, belegten Baguettes, Flammkuchen und seiner guten Laune. Es wurde dann schon fast dunkel, bis wir fröhlich und inspiriert den Heimweg antraten. Ein großes Dankeschön an Silke Amos (https://www.kulturfuehrungen.de/) für diese erlebnisreiche und interessante Tour.

Michaela, vergiß nicht den Farbfilm!

Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war, haha, haha
Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel
Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr

Nina Hagen

Viele schwarz-weiß Fotos zieren unsere Familienalben von damals. Farbfilme waren teurer und dauerten länger bei der Entwicklung der Bilder. ORWO hießen sie und wie Opa sie hauptsächlich ins Dias verwandelte hat mein Papa eher bunte Abzüge drucken lassen. Alle kamen aus der Filmfabrik Wolfen, daher OR (original) WO (Wolfen). Gegründet wurde die Firma schon 1909 und hieß damals Agfa Filmfabrik Wolfen, seit 2020 gehören alle Teilbereiche, die die Wende überlebt haben wieder zu Agfa, der Kreis schloss sich nach 111 Jahren.

In unseren Zeiten sind Filmrollen besonders geworden, die digitale Aufnahme viel günstiger. Trotzdem greife auch ich sehr gerne darauf zurück. Für die Reise nach Leipzig gönnte ich mir einen Polaroid-Film. Diese sind quasi Luxus geworden. Fürs kreative Austoben nutze ich daher sehr gerne Film-Filter. Sie geben den aktuellen Aufnahmen den Touch der Vergangenheit. Darum mag ich es irgendwie, dieses Lied von Nina. Ein Text, den heute keiner mehr singen würde. Der beim Fotografieren aber immer wieder daran erinnert, wie kostbar jedes aufgenommene Bild sein sollte.

Stürmisch begrüßte uns die Stadt, als ob sie uns gleich wieder hinausjagen wollte. Die Zeiten sind es gerade auch und umso dankbarer bin ich für das Privileg einfach reisen zu können, wohin ich möchte, fotografieren zu dürfen und einfach in einem Café Zeit mit besonderen Menschen verbringen zu dürfen.

Leipzig, das kleine Berlin? Dazu fand ich diese These

Es gehört zur Originalität unserer Zeit,
daß die Kopien immer besser werden.

Gregor Brand

Städtevergleiche sind für mich genauso langweilig, wie Städterankings. Jeder lernt die Orte und Menschen doch individuell kennen, hat Vorlieben für Gegenden, blickt oberflächlich oder detailliert auf seine Umgebung. Hat genaue Ziele oder lässt sich treiben von Stimmung, Zeit und Wetter. Für mich ist es die Mischung aus Beidem, die mich auch an bereits bekannten Orten, Neues entdecken lässt.

Schon beim Einfahren in die Stadt aus Richtung Markleeberg wussten wir, wo es nach den Ankunft hingehen sollte. Die Graffitiszene im Stadtteil Connewitz ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Dort findet mann/frau die Apotheke oder die Polizei am besten mit Google Maps. Türen, Fenster und Fassaden sind bis zur Unsichtbarkeit besprüht oder mit Aufklebern und Plakaten beklebt. Ist das Kunst oder muss das weg? Für viele Hausbesitzer wohl Sachbeschädigung – Ärger und Kosten, eine Reinigung hält vermutlich nur ein paar Tage. Für die Szene dort Ausdruck ihrer Kreativität, politischen Meinung, Wut, Kunst oder einfach nur Zeitvertreib. Für mich Motiv(e).

Nicht schlafend sitz ich da,
die Augen stets geradeaus,
ein Blick wie tausend Messer scharf,
auf Rot auf Grün auf Blau,
die Illusion aus Licht und Farbe,
ein Meer aus kleinen Punkten – nie gezählt….
Doch was wenn ich die Augen schließe?
Bin ich dann blind?
oder sehe ich in Gedanken weiter,
sozusagen ein eingebranntes Bild
von der Illusion die es gar nicht gibt?
Wer bestimmt das, was ich sehe,
bin es wirklich ich?

Manuel Diesenreiter

Verschwommen als Silhouette stapeln sich die entsorgten Stühle im Straßenraum. Selbst für Ebay taugen sie nichts mehr. Im Wirrwarr der Fahrzeugkennzeichen tauchen sie unter, verewigt in einem letzten Foto, dass ihre Existenz für ein paar weitere Jahre bestätigt.

Am nächsten Morgen zieht es uns nach Plagwitz, einem Stadtteil im Westen Leipzigs, vom Karl-Heine-Kanal durchzogen. Im Kaiserbad kann man kaiserlich frühstücken, selbst bei hässlichem Wetter draußen. Das Interior empfängt uns einladend warm, es fehlte nur ein offener Kamin als i-Tüpfelchen. Backsteinziegel und Eisenträger versprühten ihren Charme in einer der Hallen einer ehemaligen Eisengießerei. Das Café ist ein Gebäude im Westwerk, dessen Geschichte hier nachgelesen werden kann: Geschichte – westwerk-leipzig.de . Unter anderem diente das Gelände früher der Leipziger Pferdeeisenbahn.

Wie die Schwalbe, nistet die Phantasie gern an alten Mauern.

Johann Jakob Mohr

Zitternd, mit langsam gefrorenen Händen und Füßen schlichen wir durch fast menschenlose Straßen. Trotzten den Windböen und Regenschauern. Wie Vermummten lichteten wir uns vor den besprühten Wänden des Wynwool-Plagwitz ab. Im Sommer ist es hier bestimmt schön(er). Von der alten Jute-Spinnerei sind nur noch Mauern mit Löchern übrig geblieben. Da lohnte es sich nicht, sich durch die Absperrungen zu zwängen und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu riskieren. Und wahrscheinlich hätten sich auch hier nur farbenfrohe Wände ablichten lassen. Manchmal könnte man den stummen Schrei nach Hilfe dieser einst brächtigen Gebäude hören, der aus den dunklen Fenster hinaus strömt und sich in den kahlen Bäumen verfängt. Trostlose Tristesse.

Wir ziehen weite Kreise, lassen das Kunstkraftwerk links liegen, obwohl dort Wärme und digitaler Klimt locken. Ich wollte nach zig Besuchen in Leipzig endlich die Oscar Niemeyer Sphere bestaunen. Schon von weitem beeindruckend, was sich der brasilianische Architekt für das Gebäude des ehemaligen VEB Schwermaschinen S.M. Kirow ausgedacht hat. Die große weiße Kugel mit dem schwarzen Auge scheint wie an die Wand geworfen zu sein. Leider war das Gelände abgesperrt – aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Gut, dass ich meinen Dialekt behalten habe, der Sicherheitswachmann ließ sich überreden, uns für ein paar Fotos durch das offene Tor zu stehlen.

„Von den Kurven der Frauen, aber auch von den Bergen und Flüssen meines Landes beziehe ich meine Inspiration.“

Oscar Niemeyer

Quelle: https://beruhmte-zitate.de

Die Baumwollspinnerei war unser letztes Ziel. In großen Teilen erhalten geblieben im langen Lauf Ihrer Geschichte. Jetzt Hort für Künstler und Galerien (14!), die kostenlos besichtigt werden können.

„Am Beginn stand die Vision einiger mutiger Industrieller. Der Bedarf an Baumwolle war im 19. Jahrhundert weltweit rasant angestiegen. In Deutschland waren Baumwollgarne zuvor traditionell vor allem aus England und der Schweiz importiert worden, Rohware wurde seinerzeit zumeist aus den Vereinigten Staaten aber auch aus Ägypten bezogen. Ein Abflauen des Bedarfs war nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Die Löhne in Deutschland waren niedrig, die Arbeitszeiten länger als in Großbritannien, Einfuhrzölle für gröbere Garne waren hoch. Es war ein günstiger Zeitpunkt für die Vision, eine der größten Spinnereien Europas zu bauen.

Am 21. Juni 1884 erfolgte der Eintrag der Leipziger Baumwollspinnerei als Aktiengesellschaft in das Handelsregister. Von Dr. Karl Heine, der das Sumpfland im Leipziger Westen urbar gemacht hatte, erwarb man ein Grundstück inmitten der noch jungen Arbeiterquartiere, zum günstigen Preis von 2,10 Mark für den Quadratmeter mit direktem Anschlussgleis, Telefonverbindung und gesichertem Zu- und Abwasser. Für die Leitung des Vorhabens wurde der aus Zürich stammende Johann Morf engagiert. Noch im selben Jahr wurde die 1. Spinnerei errichtet (die heutige Halle 20) und die Arbeit mit fünf Spinnstühlen aufgenommen. Im März des nächsten Jahres lief die Produktion mit 30.000 Selfaktorspindeln und dazugehörigem Vorwerk bereits auf vollen Touren.“ Quelle: Gründereuphorie – SPINNEREI

Eine Erfolgsgeschichte, die in meinen Augen zeigt, dass der Osten viele Schätze birgt, die erkundet werden wollen. Natürlich wären Arbeitsplätze so viel wichtiger für die Region. Wenigstens wird dieses Areal damit gerettet und nicht dem Verfall preisgegeben wie so viele andere. Es wird nicht der letzte Besuch hier gewesen sein.

Wer direkt in der Spinnerei übernachten möchte: https://www.spinnerei.de/mieter/meisterzimmer/ und natürlich gibt es auch Führungen und zweimal im Jahr Rundgänge auf dem Gelände.

Am Sonntag kam die Sonne – endlich. Wenn auch kalt, dennoch erweckend. Wir trafen Antje zum Frühstück, DIE Fotokünstlerin aus der Stadt (www.antjekroeger.de). Bei ihren Workshops habe sehr viel gelernt, für die Arbeit mit der Kamera, den Menschen davor und dahinter, das Leben und so einiges mehr. Sie schloss sich uns an auf der Suche nach verlassen Orten an den Rändern der Stadt. Leider werden diese jetzt sogar im „wilden“ Osten immer mehr abgeriegelt, die Eingänge verbarrikadiert, per Kameras überwacht und mit Zäunen umstellt.

Der alte Flughafen bei Mockau zum Beispiel, hermetisch verschlossen. Vielleicht auch aufgrund der direkt dahinter liegenden Flüchtlingsunterkünfte? Mit Schrecken fuhren wir daran vorbei und bekamen irgendwie kein Wort mehr heraus, angesichts der Umstände, wie die Menschen dort leben müssen. Container in Reihen aufgestellt. Zäune darum. Für uns glich es einem Lager. Weit draußen, weg von der Stadt. Wo gehen die Leute denn Einkaufen? Fährt da irgendwo ein Bus? Viele sind vielleicht trotzdem froh, in Deutschland sein zu dürfen, in Sicherheit schlafen zu können. Lange sollten diese Menschen dort nicht bleiben müssen.

Eine alte Brauerei bot uns schließlich ein unbewachtes Schlupfloch, das wir nutzten, um uns in einem der Gebäude umzusehen. Wie überall gab es nichts mehr, was an den Zweck dieser Hallen erinnerte. Baumskelette warfen Schauerschatten an die Fassaden. Im Inneren sämtliche Anlagen, Maschinen, Möbel und die Menschen – verschwunden. Nur zerbrochenes Glas, zerriebener Stau und Ziegel, kaputte Fließen und Fenster bedeckten die Böden. An den Wänden Graffiti, teils kreative Kunstwerke darunter.

Den Schlangenraum nutzten wir für eine Fotoserie, die Antje hinter und ich vor der Kamera inszenierten. Der Raum verschlang uns, die Wände waren kühl und bröselten unter meinen Fingern regelrecht ab. Abgenutzt, so fühle ich mich an manchen Tagen wirklich. Vielleicht das Alter, die Anspannung, die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft für diesen Planeten, meine Kinder – alle. Vielleicht sieht es irgendwann überall so aus, weil keiner mehr hier ist. Weil wir uns selbst zerstören und nicht aufhören wollen damit. Die Natur wird die Gewinnerin sein! Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders und in der alten Brauerei wird zwar kein Bier mehr gebraut, aber neues Leben zieht ein. Mit oder ohne Menschen.

Foto: Antje Kröger
Foto Antje Kröger
Foto: Simone Kirsch; Collage: ich

Ich wünsche den Menschen die Gabe,
sich mit den Augen der anderen zu sehen.

Robert Burns (1759 – 1796)

Die ganze Serie: Ruinöse Coma-töse › Antje Kröger | Fotokünstlerin (antjekroeger.de)

Was bleibt am Ende zu sagen? Simone war zum ersten Mal in Leipzig und meinte auf dem Weg nach Connewitz: „Irgendwie sehen die Menschen hier anders aus.“ Wie denn, fragte ich zurück? Sie wusste keine Antwort. „Vielleicht glücklicher?“ fragte ich. „Ja, genau.“ war ihre Antwort.

Oktober-Blues

Frau sitzt zu viel, der Schmerz im Kreuz zieht sie nach draußen, in dichtes Blattwerk, vorbei an bereits kahl gefegten Bäumen. Stille, sanfter Nebel, den die immer noch kraftvolle Sonne schnell auflöst und den Sommer nicht enden lassen will. Der Regen fehlt, das feuchte Laub täuscht. Den Blick weit schweifend über das ausgetrocknete Gras, welches sich tapfer und standhaft dem endgültigen Ende entgegensträubt.

Im siebten Himmel malmen die Kühe auf der Weide das letzte Gras zu Brei, ziehen den Abtrieb in die Stallungen im Tal hinaus. Scheinen mit der Natur verschmolzen, jetzt wo nur noch wenige Wanderer die Weide kreuzen und kurz für eine Ablenkung sorgen. Die Blätter kringeln sich ein, als ob ihnen kalt wäre, dabei strömt Wärme durch die Flora, der Winter scheint sich zu verspäten oder fällt gar aus. Die Kühe könnten dann wohl in ihrem für immer verweilen.

Der weißgetünchte Turm erhebt sie näher zum Himmel, gewährt einen Ausblick weit über das Land, dass sich darunter ausbreitet wie ein goldener Teppich mit Motiven aus den Märchen ihrer Kindheit. Wer hat die riesige Fahne angebracht, die weithin sichtbar in der lauen Luft weht. Der König ist nicht zu finden, Jesus lässt all sein Leiden mit frischem Quellwasser von sich waschen. Traum oder Fantasie? Sie sieht was sie fühlt, verschachtelt die Motive zu einem passenden Momentum ihrer Wahrheit.

Das Kettenkarusell wartet in tristem Regenwetter auf seinen Einsatz, auch der Schwan hat noch wenig Ambitionen eine Runde zu drehen. Kürbisse müssen wieder herhalten für Dekorationen, immerhin sind diese wiederverwendbar. Sie mag das Gemüse in all seinen Variationen und Geschmacksrichtungen viel lieber auf dem Teller. Keiner interessiert sich heute für die Mahnwache vor dem Hauptbahnhof, Stuttgart 21. Der Teufel steckt im Detail und trägt heute Frack. Denn fertig wird es erst 25 sein, das lange Warten muss sich lohnen.

In Kaufrausch verfällt heute niemand, Montage sind die Tristesse par excellence. Da rührt auch eine leere Tüte keine Werbetrommel mehr. Im Warmen diskutieren Geschäftsmänner die Profite bei Import von Wärmepumpen aus Asien. Droht ein kalter Winter? Noch sieht es nicht danach aus, aber vielleicht rüttelt ein Wintersturm die Nation so richtig durch. Ob das hilft bleibt abzuwarten.

Bis dahin nehmt Platz am gedeckten Tisch, lasst euch von Musik berauscht vom Frühling träumen. Das Gras wird wieder grün emporkriechen, die Kühe auf ihre Weiden und Wiesen getrieben, die Sonne unermütlich strahlen. Keine Anklage, nur Anstoß zum Nachdenken.

Groß ist die Macht der Gewohnheit.

Lateinisches Sprichwort

Gewohnheit wird durch Gewohnheit überwunden.

Thomas von Kempen

Doppelbelichtungen Schwarzwald, Schwäbische Alb und Stuttgart, Oktober 2022

Was der Sommer übrig ließ.

Reflekta

Sei jedem Abschied voraus!

Rainer Maria Rilke
Pro(Span)

Am intensivsten ist die Nähe beim Abschied.

Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger

Lerne Abschied nehmen, von allem!

Günther Kraftschik

Wir sind in Abschied und Ankunft, wir wohnen auf der Schwelle.

Manfred Hinrich

Ein unfreundliches Willkommen läßt sich leicht vergessen, wenn einem ein guter Abschied bereitet wird.

Maxim Gorki

Ehe man nämlich ganz Abschied von dem alten Leben nimmt, sehnt man sich noch einmal gründlich danach zurück.

Theodor Fontane
Entkorkt
Chemiekeule
Heilversprechen

Manchmal muß man sich aus dem Leben anderer Menschen davonstehlen, weil man sie so sehr liebt und der Abschied unglaublich schmerzen würde.

Ernst Ramhofer
Doppelt verkabelt

Abschied, Abschied, böse Stunde!
Wer hat dich zuerst ersonnen?

Joseph Victor von Scheffel

Das bunte Herbstlaub!
Es dichtet wohl?
Aufgespeicherte Sonne.
Darunter Stimmenrausch des Abschieds.

Peter Hille
Ausgesetzt

Süß Erkennen erster Liebe,
Abschied von der weiten Welt,
Aus dem Felsen schlägt sie trübe
Einen Funken, der erhellt.

Achim von Arnim

Die Weisheit ist eine vornehme Göttin, erst wenn alle anderen
Götter den Abschied genommen haben, dann kehrt sie ein.

Johann Jakob Mohr
Verabschiedung
Endreinigung

Heute geh ich. Komm ich wieder,
Singen wir ganz andre Lieder.
Wo so viel sich hoffen läßt,
Ist der Abschied ja ein Fest.

Johann Wolfgang von Goethe

Abschiede verbinden oft mehr.

Hans Ulrich Bänziger

Beim Abschied wird die Zuneigung zu den Sachen, die uns lieb sind, immer ein wenig wärmer.

Michel de Montaigne
auf Post warten
Fingerspiel

Abschied:
wir lassen nur die Hand los
nicht den Menschen

Anke Maggauer-Kirsche

Welke Blätter
am Abend
die letzten Tänze

Tränen und Abschied
in einsamen Nächten.

Michael Sebörk

Uralt
Überrollt
EnergyDrink

Herz, nun so alt und noch immer nicht klug,
Hoffst du von Tagen zu Tagen,
Was dir der blühende Frühling nicht trug,
Werde der Herbst dir noch tragen!

Läßt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Immer zu schmeicheln, zu kosen.
Rosen entfaltet am Morgen sein Hauch,
Abends verstreut er die Rosen.

Läßt doch der spielende Wind nicht vom Strauch,
Bis er ihn völlig gelichtet.
Alles, o Herz, ist ein Wind und ein Hauch,
Was wir geliebt und gedichtet.

Friedrich Rückert