Michaela, vergiß nicht den Farbfilm!

Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war, haha, haha
Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel
Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr

Nina Hagen

Viele schwarz-weiß Fotos zieren unsere Familienalben von damals. Farbfilme waren teurer und dauerten länger bei der Entwicklung der Bilder. ORWO hießen sie und wie Opa sie hauptsächlich ins Dias verwandelte hat mein Papa eher bunte Abzüge drucken lassen. Alle kamen aus der Filmfabrik Wolfen, daher OR (original) WO (Wolfen). Gegründet wurde die Firma schon 1909 und hieß damals Agfa Filmfabrik Wolfen, seit 2020 gehören alle Teilbereiche, die die Wende überlebt haben wieder zu Agfa, der Kreis schloss sich nach 111 Jahren.

In unseren Zeiten sind Filmrollen besonders geworden, die digitale Aufnahme viel günstiger. Trotzdem greife auch ich sehr gerne darauf zurück. Für die Reise nach Leipzig gönnte ich mir einen Polaroid-Film. Diese sind quasi Luxus geworden. Fürs kreative Austoben nutze ich daher sehr gerne Film-Filter. Sie geben den aktuellen Aufnahmen den Touch der Vergangenheit. Darum mag ich es irgendwie, dieses Lied von Nina. Ein Text, den heute keiner mehr singen würde. Der beim Fotografieren aber immer wieder daran erinnert, wie kostbar jedes aufgenommene Bild sein sollte.

Stürmisch begrüßte uns die Stadt, als ob sie uns gleich wieder hinausjagen wollte. Die Zeiten sind es gerade auch und umso dankbarer bin ich für das Privileg einfach reisen zu können, wohin ich möchte, fotografieren zu dürfen und einfach in einem Café Zeit mit besonderen Menschen verbringen zu dürfen.

Leipzig, das kleine Berlin? Dazu fand ich diese These

Es gehört zur Originalität unserer Zeit,
daß die Kopien immer besser werden.

Gregor Brand

Städtevergleiche sind für mich genauso langweilig, wie Städterankings. Jeder lernt die Orte und Menschen doch individuell kennen, hat Vorlieben für Gegenden, blickt oberflächlich oder detailliert auf seine Umgebung. Hat genaue Ziele oder lässt sich treiben von Stimmung, Zeit und Wetter. Für mich ist es die Mischung aus Beidem, die mich auch an bereits bekannten Orten, Neues entdecken lässt.

Schon beim Einfahren in die Stadt aus Richtung Markleeberg wussten wir, wo es nach den Ankunft hingehen sollte. Die Graffitiszene im Stadtteil Connewitz ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Dort findet mann/frau die Apotheke oder die Polizei am besten mit Google Maps. Türen, Fenster und Fassaden sind bis zur Unsichtbarkeit besprüht oder mit Aufklebern und Plakaten beklebt. Ist das Kunst oder muss das weg? Für viele Hausbesitzer wohl Sachbeschädigung – Ärger und Kosten, eine Reinigung hält vermutlich nur ein paar Tage. Für die Szene dort Ausdruck ihrer Kreativität, politischen Meinung, Wut, Kunst oder einfach nur Zeitvertreib. Für mich Motiv(e).

Nicht schlafend sitz ich da,
die Augen stets geradeaus,
ein Blick wie tausend Messer scharf,
auf Rot auf Grün auf Blau,
die Illusion aus Licht und Farbe,
ein Meer aus kleinen Punkten – nie gezählt….
Doch was wenn ich die Augen schließe?
Bin ich dann blind?
oder sehe ich in Gedanken weiter,
sozusagen ein eingebranntes Bild
von der Illusion die es gar nicht gibt?
Wer bestimmt das, was ich sehe,
bin es wirklich ich?

Manuel Diesenreiter

Verschwommen als Silhouette stapeln sich die entsorgten Stühle im Straßenraum. Selbst für Ebay taugen sie nichts mehr. Im Wirrwarr der Fahrzeugkennzeichen tauchen sie unter, verewigt in einem letzten Foto, dass ihre Existenz für ein paar weitere Jahre bestätigt.

Am nächsten Morgen zieht es uns nach Plagwitz, einem Stadtteil im Westen Leipzigs, vom Karl-Heine-Kanal durchzogen. Im Kaiserbad kann man kaiserlich frühstücken, selbst bei hässlichem Wetter draußen. Das Interior empfängt uns einladend warm, es fehlte nur ein offener Kamin als i-Tüpfelchen. Backsteinziegel und Eisenträger versprühten ihren Charme in einer der Hallen einer ehemaligen Eisengießerei. Das Café ist ein Gebäude im Westwerk, dessen Geschichte hier nachgelesen werden kann: Geschichte – westwerk-leipzig.de . Unter anderem diente das Gelände früher der Leipziger Pferdeeisenbahn.

Wie die Schwalbe, nistet die Phantasie gern an alten Mauern.

Johann Jakob Mohr

Zitternd, mit langsam gefrorenen Händen und Füßen schlichen wir durch fast menschenlose Straßen. Trotzten den Windböen und Regenschauern. Wie Vermummten lichteten wir uns vor den besprühten Wänden des Wynwool-Plagwitz ab. Im Sommer ist es hier bestimmt schön(er). Von der alten Jute-Spinnerei sind nur noch Mauern mit Löchern übrig geblieben. Da lohnte es sich nicht, sich durch die Absperrungen zu zwängen und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu riskieren. Und wahrscheinlich hätten sich auch hier nur farbenfrohe Wände ablichten lassen. Manchmal könnte man den stummen Schrei nach Hilfe dieser einst brächtigen Gebäude hören, der aus den dunklen Fenster hinaus strömt und sich in den kahlen Bäumen verfängt. Trostlose Tristesse.

Wir ziehen weite Kreise, lassen das Kunstkraftwerk links liegen, obwohl dort Wärme und digitaler Klimt locken. Ich wollte nach zig Besuchen in Leipzig endlich die Oscar Niemeyer Sphere bestaunen. Schon von weitem beeindruckend, was sich der brasilianische Architekt für das Gebäude des ehemaligen VEB Schwermaschinen S.M. Kirow ausgedacht hat. Die große weiße Kugel mit dem schwarzen Auge scheint wie an die Wand geworfen zu sein. Leider war das Gelände abgesperrt – aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Gut, dass ich meinen Dialekt behalten habe, der Sicherheitswachmann ließ sich überreden, uns für ein paar Fotos durch das offene Tor zu stehlen.

„Von den Kurven der Frauen, aber auch von den Bergen und Flüssen meines Landes beziehe ich meine Inspiration.“

Oscar Niemeyer

Quelle: https://beruhmte-zitate.de

Die Baumwollspinnerei war unser letztes Ziel. In großen Teilen erhalten geblieben im langen Lauf Ihrer Geschichte. Jetzt Hort für Künstler und Galerien (14!), die kostenlos besichtigt werden können.

„Am Beginn stand die Vision einiger mutiger Industrieller. Der Bedarf an Baumwolle war im 19. Jahrhundert weltweit rasant angestiegen. In Deutschland waren Baumwollgarne zuvor traditionell vor allem aus England und der Schweiz importiert worden, Rohware wurde seinerzeit zumeist aus den Vereinigten Staaten aber auch aus Ägypten bezogen. Ein Abflauen des Bedarfs war nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Die Löhne in Deutschland waren niedrig, die Arbeitszeiten länger als in Großbritannien, Einfuhrzölle für gröbere Garne waren hoch. Es war ein günstiger Zeitpunkt für die Vision, eine der größten Spinnereien Europas zu bauen.

Am 21. Juni 1884 erfolgte der Eintrag der Leipziger Baumwollspinnerei als Aktiengesellschaft in das Handelsregister. Von Dr. Karl Heine, der das Sumpfland im Leipziger Westen urbar gemacht hatte, erwarb man ein Grundstück inmitten der noch jungen Arbeiterquartiere, zum günstigen Preis von 2,10 Mark für den Quadratmeter mit direktem Anschlussgleis, Telefonverbindung und gesichertem Zu- und Abwasser. Für die Leitung des Vorhabens wurde der aus Zürich stammende Johann Morf engagiert. Noch im selben Jahr wurde die 1. Spinnerei errichtet (die heutige Halle 20) und die Arbeit mit fünf Spinnstühlen aufgenommen. Im März des nächsten Jahres lief die Produktion mit 30.000 Selfaktorspindeln und dazugehörigem Vorwerk bereits auf vollen Touren.“ Quelle: Gründereuphorie – SPINNEREI

Eine Erfolgsgeschichte, die in meinen Augen zeigt, dass der Osten viele Schätze birgt, die erkundet werden wollen. Natürlich wären Arbeitsplätze so viel wichtiger für die Region. Wenigstens wird dieses Areal damit gerettet und nicht dem Verfall preisgegeben wie so viele andere. Es wird nicht der letzte Besuch hier gewesen sein.

Wer direkt in der Spinnerei übernachten möchte: https://www.spinnerei.de/mieter/meisterzimmer/ und natürlich gibt es auch Führungen und zweimal im Jahr Rundgänge auf dem Gelände.

Am Sonntag kam die Sonne – endlich. Wenn auch kalt, dennoch erweckend. Wir trafen Antje zum Frühstück, DIE Fotokünstlerin aus der Stadt (www.antjekroeger.de). Bei ihren Workshops habe sehr viel gelernt, für die Arbeit mit der Kamera, den Menschen davor und dahinter, das Leben und so einiges mehr. Sie schloss sich uns an auf der Suche nach verlassen Orten an den Rändern der Stadt. Leider werden diese jetzt sogar im „wilden“ Osten immer mehr abgeriegelt, die Eingänge verbarrikadiert, per Kameras überwacht und mit Zäunen umstellt.

Der alte Flughafen bei Mockau zum Beispiel, hermetisch verschlossen. Vielleicht auch aufgrund der direkt dahinter liegenden Flüchtlingsunterkünfte? Mit Schrecken fuhren wir daran vorbei und bekamen irgendwie kein Wort mehr heraus, angesichts der Umstände, wie die Menschen dort leben müssen. Container in Reihen aufgestellt. Zäune darum. Für uns glich es einem Lager. Weit draußen, weg von der Stadt. Wo gehen die Leute denn Einkaufen? Fährt da irgendwo ein Bus? Viele sind vielleicht trotzdem froh, in Deutschland sein zu dürfen, in Sicherheit schlafen zu können. Lange sollten diese Menschen dort nicht bleiben müssen.

Eine alte Brauerei bot uns schließlich ein unbewachtes Schlupfloch, das wir nutzten, um uns in einem der Gebäude umzusehen. Wie überall gab es nichts mehr, was an den Zweck dieser Hallen erinnerte. Baumskelette warfen Schauerschatten an die Fassaden. Im Inneren sämtliche Anlagen, Maschinen, Möbel und die Menschen – verschwunden. Nur zerbrochenes Glas, zerriebener Stau und Ziegel, kaputte Fließen und Fenster bedeckten die Böden. An den Wänden Graffiti, teils kreative Kunstwerke darunter.

Den Schlangenraum nutzten wir für eine Fotoserie, die Antje hinter und ich vor der Kamera inszenierten. Der Raum verschlang uns, die Wände waren kühl und bröselten unter meinen Fingern regelrecht ab. Abgenutzt, so fühle ich mich an manchen Tagen wirklich. Vielleicht das Alter, die Anspannung, die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft für diesen Planeten, meine Kinder – alle. Vielleicht sieht es irgendwann überall so aus, weil keiner mehr hier ist. Weil wir uns selbst zerstören und nicht aufhören wollen damit. Die Natur wird die Gewinnerin sein! Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders und in der alten Brauerei wird zwar kein Bier mehr gebraut, aber neues Leben zieht ein. Mit oder ohne Menschen.

Foto: Antje Kröger
Foto Antje Kröger
Foto: Simone Kirsch; Collage: ich

Ich wünsche den Menschen die Gabe,
sich mit den Augen der anderen zu sehen.

Robert Burns (1759 – 1796)

Die ganze Serie: Ruinöse Coma-töse › Antje Kröger | Fotokünstlerin (antjekroeger.de)

Was bleibt am Ende zu sagen? Simone war zum ersten Mal in Leipzig und meinte auf dem Weg nach Connewitz: „Irgendwie sehen die Menschen hier anders aus.“ Wie denn, fragte ich zurück? Sie wusste keine Antwort. „Vielleicht glücklicher?“ fragte ich. „Ja, genau.“ war ihre Antwort.

Es ist wie es ist.

So, wie es ist, ist es nicht gut, und so, wie es werden soll, ist es noch schlimmer als so, wie es früher war, obwohl es damals schon besser war, als es je sein kann.

© Udo Keller

Wenn mich die Melancholie überfällt, gehe ich extra dann mit der Kamera los, wenn Wetter, Ort und Zeit diese Melancholie in meinen Bildern wiederspiegeln wird. Es war kalt, es schneite, es wehte und es war ein Freitag. Scheinbar und gefühlt war ich die Einzige unterwegs, menschleer gefegt die Straßen, wer nicht raus musste, blieb drin, wer raus musste, verschwand leiber wieder schnell ins Warme.

Weihnachten und Silvester lagen hinter der Stadt, die schmucklosen Tannen noch nicht abgeholt, der Einkaufsrausch vor dem Fest noch nicht verdaut, zum neuen Schwung ins Neue Jahr noch nicht bereit.

Doch gib‘ acht, dein Leben ist
genau wie du es siehst.
Ein Buch ist spannend oder trist.
Es kommt drauf an, wer’s liest!

© Thomas S. Lutter

Risse in Fassaden, die Farben verblasst oder abgeblättert, leere Fenster schauen mich an. Dennoch empfinde ich eine Schönheit bei diesen Anblicken. Genau wie Falten und Zeichen des Lebens die Gesichter der Menschen interessant machen, ziehen mich diese Zeitzeugen mit ihrem Geschichten an wie Honig. Eine seltsame Mischung aus Wehmut über den Niedergang und Freude über das Finden und Festhalten der kleinen Details, die irgendwann ganz verschwunden sein werden.

Im Leben gibt es keine Zufälle,
alles geschieht so, wie es für dich am besten ist.

© Anne Roggow

An Zufälle kann glauben wer will, diese beiden fand ich auf dem Weg ins warme Zuhause wie ein Bonbon auf der Straße. Vater und Sohn, beides Elektriker, der Heimat Vogtland treu geblieben – waren dabei, die Weihnachtsdekoration an einer Bäckerei zu entfernen. Wir kamen ins Gespräch, entdeckten Gemeinsamkeiten aus meiner Kindheit und ich durfte sie im Schneegestöber ablichten. Ein herzlicher Dank erreichte mich Wochen später, als der Sohn die Fotos betrachten durfte. Mein Herz hüpfte ein zweites Mal. Worte sind oft die schönsten Geschenke.

Kein Halt mehr in Tanglin

Wo seid ihr nun, Städte, mühsam aufgeschichtet, Häuser, über gähnenden Gassen aufgetürmt, getürmte Kirchen, aufstarrend ins Blau, Paläste, Kuppeln, qualvoll emporgerissen? Und ihr, junge Menschen, gebäumte, aufstürmende Kinder, die leeren Hände steil emporgeworfen, emporgeworfen die heißen, vorzeitigen Gesichter, die schreienden Münder aufgewölbt, wo bist du, beraubte, entwurzelte Jugend mit der großen, rührenden Gebärde ins Leere hinein?

Maria Waser
(1878 – 1939)

Die Baumaschinen empfangen mich schon an der Haltestelle, an der ich meinen Bus verlasse. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die „Church of the Blessed Sacrament“ deren hellblaue Dächer von der Straße aus gut sichtbar sind. Direkt daneben der Sri Muneeswaran Tempel, dessen Geschichte bis ins Jahr 1932 zurückreicht. Zwischen dem Commonwealth Drive und der alten ehemaligen Bahntrasse nach Malaysia, die sich jetzt Green Corridor nennt und zum Wander- und Radweg umfunktioniert wurde, stehen Wohnblocks für mehr als 3.600 Haushalte. TANGLIN HALT.

Die ersten Wohnungen wurden in den 1960er Jahren errichtet, bis 1972 waren alle bezogen. Das Wohngebiet gehört damit zu einem der ersten in Singapur, die vom HDB (Home Development Board) Wohnraum für viele Menschen schafften. Markthalle, zwei Foodcourts, viele kleine Geschäfte, Theater, Communitycenter, ein großer Sportcomplex, Kirche, Tempel, Moschee – alles vorhanden und dankbar angenommen von den Bewohnern.

Bis 2024 wurde die Frist nun verlängert, dann rücken die Abrissbagger endgültig an, alles wird dem Erdboden gleich gemacht, Neues soll entstehen. Höher, moderner, teurer. Viele der alten Bewohner sind bereits ausgezogen und weitere werden es müssen. Umsiedlung in andere HDB Wohnkomplexe. Nach 70 Jahren hier fällt das nicht jedem leicht. Gerade die Älteren hadern mit diesem Schicksal, die Jüngeren finden Gefallen an den neuen Wohnprojekten, die hier entstehen werden. Zweimal durchstreifte ich die Gegend mit der Kamera. Ich mag diese morbide Stimmung, die den Häusern anhaftet. Jede Haustür verbirgt seine Familiengeschichte. Jedes Stockwerk seine kleine Gemeinschaft, die sich jetzt auflösen wird.

Ein frischer Wind entwurzelt nicht.

Raymond Walden

Mit Entwurzelungen bin ich vertraut. Prägen quasi mein Leben. Die Oma als Sudetendeutsche vertrieben aus Tschechien, der Opa als Ostpreuße vertrieben aus Polen. Die Mutter verlässt mit 18 die Heimat und bleibt am Studentenort für immer. Tante und Onkel brechen die Zelte in der alten Heimat im Osten ab und folgen den beiden Kindern in den Südwesten. Auch wir suchen unser Glück im „goldenen“ Westen. Die längste Zeit meines Lebens habe ich im Haus der Bäckerei verbracht, danach gab es Umzüge im 2 – 6 Jahrestakt. Ich mag den frischen Wind, der immer wieder in mein Leben bläst. Und doch schwingt da eine kleine Sehnsucht nach Beständigkeit mit, einen Platz zu finden der Heimat sein kann. Oder ist das Vagabundenleben zu sehr verwurzel und mein Schicksal?

Es gibt ein Bleiben im Gehen,
ein Gewinnen im Verlieren,
im Ende einen Neuanfang.

Aus Japan

In Rückblick waren die Veränderungen in meinem Leben immer die Erfahrungen wert, die mit ihnen einhergingen. Ohne diese Umbrüche wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Zum Wachsen an den neuen Umständen und Aufgaben gesellten Rückschläge und Widerstände. Leben nennt sich das wohl. Je älter man wird, desto schwieriger akzeptiert der eine oder andere Veränderungen. Eine meiner Omas musste im betagten Alter ihr Zuhause verlassen. Auch wenn sie danach näher bei der Familie lebte, die Sehnsucht nach ihrem Dorf war schwer zu überwinden.

Hier in diesem Gebiet wird wahrscheinlich nichts mehr so sein wie es jetzt noch ist. Ich gehe gerne ganz bewusst an solche Plätze und versuche einen kleinen Ausschnitt zu dokumentieren. Spannend für mich ist dabei auch die Recherche, viele alte Fotos von Tanglin Halt finden sich zum Beispiel hier: https://mycommunity.org.sg/guided-tours/my-tanglin-halt-heritage-tour/

Dann bereue ich manchmal nicht schon viel früher mit ernsthafter Dokumentation begonnen zu haben. Immerhin erhalte ich hier die Möglichkeit und als Bonbon einige Stimmen der EinwohnerInnen zu bekommen, erfreut mein Herz.

wenn wir weitergehen
sollten wir immer etwas zurücklassen

Anke Maggauer-Kirsche

Eine ältere Frau fragt, was ich hier mache? Fotos, um die Erinnerungen zu bewahren, erkläre ich ihr. Sie ist erfreut und berichtet von ihrem Einzug, da war sie 27 Jahre alt, der Sohn gerade geboren, jetzt ist sie weit über 70 und muss bald ausziehen. Wenn sie die Schlüssel zur neuen Wohnung bekommt, bleiben ihr drei Monate die alte zu verlassen. Die Küche sei zu klein dort, da passt sie nur allein hinein und überhaupt ist das Appartment kleiner. Begeisterung erkenne ich nicht in ihren Worten. Ob sie denn Nachbarn hat, die auch dorthin umziehen werden. Ja, die meisten ziehen in die von der Regierung zugewiesenen neuen Apartments, die nicht so weit entfernt liegen. Dennoch gefiel es hier sehr gut und sie wird es vermissen. Auf ihre alten Tage hatte sie nicht mehr damit gerechnet. Etwas traurig läuft sie in Richtung des kleinen Marktes, ich sehe sie später dort mit anderen älteren Frauen zusammensitzen beim Mittagessen.

Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit.

Wilhelm Raabe

Letztlich hat mir irgenwie immer die Neugierde und mit zunehmendem Alter die Akzeptanz geholfen, mich immer wieder neu einzuleben, anzukommen und irgendwann Abschied zu nehmen. Kontakte zu bewahren und Beziehungen zu Menschen aufrecht zu halten, die mir wichtig sind. Ich kenne mittlerweile mehr Bekannte, die nicht stetig am gleichen Ort gelebt haben, vielleicht eine Art Auswahl, die ich unbewusst treffe oder eine Konsequenz daraus, dass ich mich doch mit Gleichgesinnten umgebe? Wer weiß das schon. Wahrscheinlich sind jetzt einfach sehr viel mehr Menschen unstetig und mobil, als noch in meinen ganz jungen Jahren. Die Perspektive zu wechseln schmerz manchmal, aber sie schärft den Blick auf das was mir wichtig ist.

Auch wenn dieses Wohnviertel demnächst nicht mehr existieren wird, die Menschen und ihre Geschichten bleiben bestehen. Sie werden ihren Kindern und Enkelkindern vom Leben in Tanglin Halt erzählen. Ihr Leben weitergeben und vielleicht auf die alten Tage neue Bekanntschaften machen. Wurzeln verliert man nicht, man kann sie aber ausgraben und neu anpflanzen, manche blühen sogar besser am neuen Standort.

Der Baum der Zukunft lebt von den Wurzeln der Vergangenheit.

Hermann Lahm

Bye Bye Tanglin Halt

Versteckte Perlen

Wenn von den eichen erste morgenkühle
Die feuchten perlen uns ins antlitz blies
So knirrte auf dem pfad der spitze kies
Erinnerte die schweigenden Gefühle.

Und auch die eigene stimme schien dir rauh
Wenn du im takt verwandter pulse bangen
Vernahmst die enger zu den deinen drangen
Und laues schmiegen trocknete den tau.

Stefan George 1868 – 1933

Seit langer Zeit liegt es vergessen, hinter Dickicht aus dschungelgrünem Pflanzenwirrwarr. Fast undurchdringlich. Zu Beginn seiner Zeit stand es frei und überstrahlte die Gegend mit seinem Prunk und seiner Pracht. Ein Sultan und seine vierte Frau residierten hier einst. Die weitere Geschichte kann nachgelesen werden, aus der Zeit gefallene Fotografien belegen die Exsistenz der einstigen Schönheit. Das blaue Ziegeldach wetteiferte mit dem Himmel, bis es nach einem verherrenden Feuer einstürzte und in tausende Scherben zerbrach.

Vielleicht findet sie noch eine versteckte Perle im verlassenen und kühlen Gemäuer, unter Scherben und Holzsplittern. Zwischen dem Wildwuchs, der sich Fassenden und Wände, Dächer und Fenster zu eigen gemacht hat und das ehrwürdige Haus jetzt fest umschlingt. Sie folgt dem kleinen Trampelpfad, lauscht den Geräuschen der Natur, genießt die ersten Regentropfen auf der Haut als willkommene Abkühlung in der Hitze des Morgens. Pflanzen bieten ihre Früchte und Samen in prachvollen Farben und Formen dar.

Zwischen dem Blattwerk zeigt sich ihr eine kleine Behausung, fast gänzlich verschlungen vom Urwald. Löcher im Mauerwerk zeigen einstige Fenster und Türen, spärlich dringt ein wenig Sonnenlicht ins Innere. Keine Perlen zur sehen. Fasziniert betrachtet sie die Versuche einiger Pflanzen, an den Wänden eine Art natürliche Tapete zu kreieren. Lange Wurzeln bahnen sich ihren Weg durch die verlassenen Räume, krallen sich an den Dachkanten fest, winden sich um Mauerecken, verschwinden durch eine Spalt wieder ins Freie.

Endlich

Die Tapete an der Wand
ist grau geworden
dort, wo Fotos hingen
erzählen Flecken Geschichten von
Liebe, Freundschaft, Abenteuer.
Unser Leben
verblasst im Glanz
der Zeit.
Vergessen.

Kurt Traxl

Einen Katzensprung nebenan, fast unsichtbar, wie von Zauberei verwunschen, wird der Palast sichtbar. Zwei Stockwerke mit Balkonen ringsherum. Sanft und vorsichtig schleicht sie ins Innere. Die Augen müssen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Unter den Füßen knirscht es, die Treppenstufen knarzen, Vandalen hinterließen Beweismittel an fast allen Wänden. An einem Türbalken erblickte sie einen Strick, den die Geisterjäger angebracht haben mussten. Sie spürt nur den Geist des Hauses, es blutet und ist schmerzlich verwundet. Liegt im Sterben, eine Rettung erscheint unmöglich. Aufgegeben seit Jahren. Das Bewahren für die Zukunft verspielt. Es schmerzt sie auch diesmal, diesen Verfall zu sehen, der dennoch seine eigene Schönheit besitzt. Der Blick in den vom Nebelregen diffusen Wald brennt sich in ihr Gedächtnis ein. Gedankenspiele, wie es sich hier lebte, welche Musik gespielt, welche Feste gefeiert wurden. Wer hat hier seine Lebenszeit verbracht. Wem ging es gut, wer musste dienen?

Sie spannt den Schirm auf. Das brüchige Dach hat viele Löcher, durch die das Nass hinein tropft und Pfützen bildet. Das alte Parket ist aufgequollen. Eine Weile vor dem verzierten Geländer, an dem die rote Farbe als Patina durchscheint, verweilen und die Stille des Ortes in sich aufsaugen. Lassen sich Perlen finden? Blaue Splitter übersäen den Boden, ein Brocken davon wandert in ihre Tasche. Wer braucht schon Perlen? Die Bilder im Aufnahmegerät sind heute ihre Perlen. Die Natur begräbt hier einen großen Schatz unter sich und vielleicht ist das sogar der beste Plan für diesen Ort.

Danke liebe Gina für deine Gesellschaft.

Um Einfluß quält sich Stolz; der Geiz, daß Geld sich mehre;
Der Höfling im Palast dient schwer um Schein und Ehre!
Der Glückliche lebt sich; in seiner freien Brust,
Da ist sein Stolz, sein Ruhm, sein Reichtum, seine Lust!
Frei wollt ihr alle sein und fesselt euer Leben!
Kehrt zur Natur zurück, nur sie kann Frieden geben!

Siegfried August Mahlmann (1771 – 1826)