Es ist wie es ist.

So, wie es ist, ist es nicht gut, und so, wie es werden soll, ist es noch schlimmer als so, wie es früher war, obwohl es damals schon besser war, als es je sein kann.

© Udo Keller

Wenn mich die Melancholie überfällt, gehe ich extra dann mit der Kamera los, wenn Wetter, Ort und Zeit diese Melancholie in meinen Bildern wiederspiegeln wird. Es war kalt, es schneite, es wehte und es war ein Freitag. Scheinbar und gefühlt war ich die Einzige unterwegs, menschleer gefegt die Straßen, wer nicht raus musste, blieb drin, wer raus musste, verschwand leiber wieder schnell ins Warme.

Weihnachten und Silvester lagen hinter der Stadt, die schmucklosen Tannen noch nicht abgeholt, der Einkaufsrausch vor dem Fest noch nicht verdaut, zum neuen Schwung ins Neue Jahr noch nicht bereit.

Doch gib‘ acht, dein Leben ist
genau wie du es siehst.
Ein Buch ist spannend oder trist.
Es kommt drauf an, wer’s liest!

© Thomas S. Lutter

Risse in Fassaden, die Farben verblasst oder abgeblättert, leere Fenster schauen mich an. Dennoch empfinde ich eine Schönheit bei diesen Anblicken. Genau wie Falten und Zeichen des Lebens die Gesichter der Menschen interessant machen, ziehen mich diese Zeitzeugen mit ihrem Geschichten an wie Honig. Eine seltsame Mischung aus Wehmut über den Niedergang und Freude über das Finden und Festhalten der kleinen Details, die irgendwann ganz verschwunden sein werden.

Im Leben gibt es keine Zufälle,
alles geschieht so, wie es für dich am besten ist.

© Anne Roggow

An Zufälle kann glauben wer will, diese beiden fand ich auf dem Weg ins warme Zuhause wie ein Bonbon auf der Straße. Vater und Sohn, beides Elektriker, der Heimat Vogtland treu geblieben – waren dabei, die Weihnachtsdekoration an einer Bäckerei zu entfernen. Wir kamen ins Gespräch, entdeckten Gemeinsamkeiten aus meiner Kindheit und ich durfte sie im Schneegestöber ablichten. Ein herzlicher Dank erreichte mich Wochen später, als der Sohn die Fotos betrachten durfte. Mein Herz hüpfte ein zweites Mal. Worte sind oft die schönsten Geschenke.

Stumme Zeugen

Falkenstein liegt im Vogtland, südwestliches Sachsen, direkt an der Grenze zu Bayern, Thüringen und Tschechien. Er ist einer der drei größeren Orte im Göltzschtal neben Auerbach, meiner Heimatstadt und Rodewisch, meiner Geburtsstadt. Ich muss also ein wenig ausholen für diese Serie an Bildern, die bei meinem letzten Besuch dort entstanden sind. Mit dem Ort Falkenstein verbinden mich gleich mehrere Gegebenheiten. Meine Namensvetterin lebte dort (Yvonne Sandra), deren Eltern sich mit meinen die verrückte Idee ausgedacht hatten, den Kindern nahezu selbe Namen zu geben. Mein zweiter Vorname ist Ivonne (der eine Buchstabe macht den Unterschied) und ich bin etwas eher geboren als sie. Wir haben viel zusammen gespielt in unserer Jugend, gemeinsame Ausflüge zum FFK gehörten auch dazu, die Eltern hatten eine Eisdiele in Auerbach, wie wunderbar für uns Kinder – DDR-Leben, es war eine unbeschwerte Zeit. Jetzt lebt sie in der Schweiz, hat die Heimat verlassen, wie ich und 1,5 Millionen andere nach der Wende, auf der Suche nach Arbeit, die es im Göltzschtal für uns nicht gab. Mein Mann stammt aus Falkenstein und ein paar Jugendlieben vor ihm auch ;-) – Falkenstein kenne ich also gut, es gab ein Kino (jetzt wieder Veranstaltungsort für unterschiedliche Kulturangebote), eine Disco (da steht jetzt ein Supermarkt), ein Stadion, ein Freibad und die Talsperre, an der wir viele Sommer verbrachten. In Falkenstein gab es einen Plattenladen, in dem wir unzählige LPs und CDs gekauft haben.

Falkenstein verbinde ich mit positiven Erinnerungen und doch blutet mir seit Jahren das Herz, wenn ich durch die im Schachbrettmuster abgelegte Stadt fahre oder laufe. Viele Häuser sind nach dem Zusammenbruch der DDR wieder hergerichtet worden, hatten Geschäfte, die eine lange Zeit gut funktionierten. Jetzt stehen an sehr vielen Fenstern Schilder „Zu verkaufen“ „Zu vermieten“ „Geschlossen“. Andere Häuser sind schon seit Jahrzehnten verlassen und wohl nicht mehr zu retten. Sie wurden verlassen, verkauft, nicht wieder bewohnt oder die Besitzer interessieren sich nicht mehr dafür. Mittlerweile gibt es zwei Varianten dieser stummen Zeugen. Natürlich gibt es noch Geschäfte und sehr viele bewohnte Häuser und trotzdem erkennt jeder, der mit offenen Augen durch die Straßen läuft, dass hier soviel Potential verloren gegangen ist und gehen wird. Einst prachtvollen Fassaden bröckeln vor sich hin, kunstvoll gezimmerte und geschmiedete Türen verrotten, Reliefs und Verzierungen aus Stein lösen sich auf und die Risse in den Gemäuern wirken wie Wunden verletzter Seelen.

Es werden schon sehr lange keine Geschichten mehr erzählt in diesen Häusern, die einst voller Leben, Liebe, Gesprächen und Kultur waren. Erinnerungen an die ehemaligen Bewohner verblassen langsam. Wenn sie verschwinden, bleiben nur die Archive und Zeitzeugen, die sich wage an diese Bauwerke und der Nutzung erinnern können.

In letzter Zeit befällt mich oft der Gedanke, ob nicht auch ich daran Schuld trage, dass es diese Häuser nicht geschafft haben. Schließlich habe ich meine Heimat verlassen und bin bis heute nicht zurückgekehrt. Was wäre, wenn ich geblieben wäre, wenn alle geblieben wären, wenn die Wiedervereinigung anders verlaufen wäre, wenn es Jobs im Osten gegeben hätte, wenn sich Industrien und „blühende Landschaften“ in einem schnelleren Zeitrahmen entwickelt hätten, wenn es Perspektiven gegeben hätte, die junge Leute zum Bleiben veranlasst hätten oder zur Rückkehr bewegen würden. Es gibt diese Rückkehrer, sogar in einer wachsenden Zahl. Aber für die „Flüchtigen“ meine Generation haben wohl mittlerweile ihre Zelte woanders aufgebaut, ein neues Zuhause gefunden. Die Heimat bleibt trotzdem im Herzen immer „drüben“. Und den Verfall ehemals schöner Ecken zu beobachten tut mitunter ziemlich weh. Keine Frage, Regionen wie Dresden, Leipzig, Potsdam, Erfurt, Jena, Berlin oder Rostock haben sich entwickelt, waren aber auch schon bevor es die DDR gab große Zentren von Wirtschaft, Kultur und Politik. Es ist viel Gutes im Osten entstanden in den letzten 30 Jahren. Es wurde investiert in Infrastruktur und Sanierungen vieler Orte. Es sind Jobs entstanden. Es gibt Kultur. Nur in manchen Ecken fruchteten die Bemühungen eben doch nicht, wie geplant. Der ersten Welle von Neugründungen und Selbstständigkeit machen jetzt wohl wie in der gesamten Republik der globale Handel und der Konsum im Internet zu schaffen. Geschäfte schließen, Gaststätten ebenso. Ja es ist einfach den Verfall zu beklagen und selbst nicht dort zu wohnen, seine Ideen und seine Energie nicht dort einzubringen. Aber mit dieser Schuld wird letztlich jeder der 1,5 Millionen leben müssen, die gegangen sind. Und die Geschichte kann und wird sich beliebig oft wiederholen, was sie tut, angesichts der weltweiten Migration aus politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder kriegerischen Gründen.

Ich habe ganz bewusst auch bewohnte Häuser in diese Serie aufgenommen. Sie zeigen, welche Schönheit diese Stadt einst prägte. Das sich lohnt die alten Mauern zu sanieren, das Leben in ihnen zu bewahren und die Geschichten weiterzuerzählen. Meine Hoffnung gebe ich nicht auf. Abbruchhäuser gibt es auch im Westen der Republik und spätestens die Generation meiner Kinder und Enkelkinder, wird Deutschland nur nach Bundesländern aufteilen. Von Ost und West erzählen wir ihnen dann, wie unsere Großeltern vom Krieg oder dem Leben in der DDR. Vielleicht schaffen es bis dahin noch einige dieser Häuser, liebevolle neue Besitzer zu finden, die ihnen wieder Leben einhauchen.

Zugemauert! An dieser Ecke war ich nach gut zwei Stunden in den Straßen unterwegs und durchgefroren. Ein Café wäre jetzt prima gewesen, leider war keins offen. Und dann spielte König Zufall wieder einmal mit, Yvonne stupste mich von hinten an. Sie war sich sicher, die Frau mit der Kamera konnte nur ich sein. Wie schön, sich hier wieder zutreffen. Wir plauderten eine Weile und freuten uns über den Moment. Nächstes Mal sollten wir das besser planen und einen Kaffee zusammen trinken. Der alten Zeiten wegen und der heutigen Zeiten natürlich auch, es gäbe viel zu erzählen.

Ein Haus steht in der Finsternis.
Finsternis steht ringsrum.
Ein Fenster leuchtet.
Einer sagt: Verzweiflung.
Einer sagt: Hoffnung.
Und eine Waage ist nicht zur Hand.
Nur Entscheidung.


Johannes Trojan (1837 – 1915)

https://de.wikipedia.org/wiki/Falkenstein/Vogtl.