Meine für mich beste Arbeit dieses Jahres möchte ich in diesem Artikel vorstellen. Lange habe ich überlegt, ob ich diese Fotos überhaupt veröffentlichen soll, bis ich mich an die Bearbeitung machte und dabei festgestellt habe, dass es nicht richtig wäre, sie im Archiv verschwinden zu lassen. Es ist eine recht umfangreiche Reportage zu einem Ereignis, dem wir in unserem Sommerurlaub beiwohnten. Eher zufällig hatten wir davon erfahren, als uns am Abend vorher der Barbesitzer davon erzählte. Wahrscheinlich hätten wir dieses Event verschlafen und uns nur über die Kanonenschüsse um acht Uhr morgens im Bergtal gewundert.
Hätte ich über unseren Urlaubsort Fornalutx vorab einmal bei Wikipedia nachgelesen, wäre mir sofort dieser Text ins Auge gesprungen: Alljährlich um den 8. September herum, zur Zeit des Dia Novitat de la Mare de Deu, wird in Fornalutx, vermutlich am einzigen Ort auf Mallorca, noch das Fest Correbou gefeiert. Hierbei handelt es sich, wie bei ähnlichen Festen um ein bis in die Frühzeit reichendes Stieropfer. Ein Stier wird von einer jungen Frau mit einem Blumenkranz geschmückt, um anschließend durch den Ort getrieben zu werden. Am Ende wird er geschlachtet und das Fleisch wird unter den Spendern des Stiers aufgeteilt. Seit einigen Jahren protestieren zeitgleich verschiedene Tierschutzorganisationen gegen diesen alten Brauch.
Es ist neben einer kurzen Beschreibung des Ortes der einzige Eintrag dort.
Wir wussten nicht genau, was uns am Morgen im Ort warten würde, da der Barbesitzer nur sehr dürftiges Englisch sprach und wir nur in Erfahrung bringen konnten, das am nächsten Tag ab 8 Uhr etwas los ist mit einem Stier und wir zum Markplatz kommen sollen. Die Kinder malten sich eine blutige Hetzjagd des Tieres durch die schmale Hauptstraße aus und wollten eigentlich gar nicht mitgehen. Auch eine vor Ort Schlachtung auf dem Marktplatz lief im Kopfkino der beiden ab. Ich beruhigte und glaubte nicht an eine blutige Aktion. Da wir kein Internet im Ferienhaus hatten, blieb uns nur abzuwarten und mit einem etwas mulmigen Gefühl hinzugehen. Da wir nicht genau wussten was uns erwartete nahm ich natürlich meine Kamera mit, in der Annahme es würde sicher ein paar spannende Aufnahmen geben.
Ich sollte nicht enttäuscht werden. Der gesamte Ort war schon vor acht Uhr auf den Beinen, so wie es aussah waren nicht nur Einheimische hier, Freunde und Schaulustige aus den Nachbarorten schienen extra angereist zu sein. Im Ort wurde schon eine ganze Woche Fiesta gefeiert, dieses Ereignis, sowie ein Konzert auf dem Sportplatz waren die Höhepunkte der Festwoche. Viele der Leute trugen extra für das Event gedruckte T-Shirts und strömten zusammen mit uns in Richtung Ortsausgang. An allen Balkonen und Mauern standen oder saßen bereits Urlauber, Familien mit Kindern – Fotografen standen mit Teleobjektiven parat und sogar ein Kamerateam konnte ich entdecken. Nicht zu übersehen war das Aufgebot der Polizei, die mit etwa 15 Leuten auf der Hauptstraße standen.
Wir fanden einen für uns geeigneten Platz und mischten uns unter die Leute, ein sehr netter Brite, der schon ein paar Jahre hier im Ort lebte, erklärte uns dann das Spektakel. Es ist eher eine Mutprobe für die Jugend, die vor einem an Seilen festgebunden Stier herlaufen. Der Stier wird von mehreren Männern gehalten und angestachelt, so das er immer wieder versucht sich loszureißen und durch die Menge zu jagen. Okay, also die Kinder lieber auf die Mauer oberhalb der Straße gesetzt, erschien mir vernünftig. Es würde auch kein Blut fließen, eine Schlachtung erfolgt dann wohl eher im Schlachthof und nicht auf dem Marktplatz.
Es dauerte nicht lange, als wir laute Rufe vom anderen Ende der Straße (Richtung Marktplatz) hörten und ich eine kleine Gruppe von Menschen ausmachen konnte, die sich mitten auf die Hauptstraße gesetzt hatten, um ihren Unmut über diese Aktion kundzutun. Im Kreis versammelt und untergehackt schrien die Tierschützer lautstark ihr Parolen, auf spanisch natürlich. Polizisten schirmten sie ab, allerdings war es weder für die Presse noch Fotografen schwierig an die Leute heranzukommen. Es ging keine Gefahr von ihnen aus, sie demonstrierten einfach gegen diese für sie unsinnige Tradition. Den Schaulustigen schien das Spektakel vor dem Spektakel zu gefallen, es gab eher verhaltene Widerworte auf deren Reihen. Als die Presse und Kamerateam ihre Fotos hatten griff die Polizei ein, um die Demonstranten von der Straße zu räumen. Einzeln wurden sie ohne Widerstand zu leisten von der Straße geführt oder getragen und in einer kleinen Gasse sofort von den Reportern für ein Interview umringt.
Das eigentliche Spektakel konnte nun beginnen, kurze Zeit später setzte sich der Pulk an Menschen vom Ortseingang aus zusammen mit dem Stier in Richtung Marktplatz in Bewegung. Die Jugend sprang immer wieder in schnellen Schritten vor dem Tier davon, die auserwählten Männer hielten den Stier im Zaum und einige andere versuchten ihn mit Tüchern wild werden zu lassen. Das gelang nur teilweise, als er auf unserer Höhe war hatte ich das Gefühl, er hatte keine Energie für dieses Spiel. Weißer dicker Speichel tropfe aus seinem Maul, ich meine in seinen Augen den Stress zu sehen, der gerade in seinem Körper herrscht. Die Menge jubelt, einige sind ängstlich und einige auch entsetzt. Ich versuche die Blicke und Stimmungen aller Beteiligten einzufangen. Mir tut das Tier nur leid und eigentlich will ich in diesem Moment gar nicht dort sein. Irgendwann hat er es geschafft, wird in eine große Box verladen und weggefahren. Wohin weiß ich nicht.
Ich habe nichts gegen Traditionen und finde diese wichtig, Menschen drücken ihre Identität damit aus und weltweit gibt es die verschiedensten bunten Feste und Ereignisse. Die Welt wäre um soviel ärmer ohne sie. Aber andere Lebewesen dafür leiden zu lassen ist in der heutigen Gesellschaft nicht mehr notwendig. Ich kann die Tierschützer gut verstehen und bewundere ihren Mut sich gegen diese Stierjagd zu stellen. Vermutlich wird es auch im kommenden Jahr wieder dazu kommen im kleinen beschaulichen Fornalutx, dass ich als einen so idyllischen Ort mit sehr liebenswerten Menschen in Erinnerung behalten möchte. Vielleicht haben die Bewohner irgendwann den Mut, mit dieser Tradition zu brechen und keinen lebenden Stier mehr durch den Ort jagen zu wollen. Eine farbenfrohe Prozession mit Kindern als Stiere verkleidet würde sicher ebenso viele Touristen und Fotografen anziehen. Aber vielleicht bleibt das nur meine idealistische Traumvorstellung. Ich hoffe nicht.
Meine Reportage ist in vier Teile gegliedert, die Bilder lassen sich mit einem Klick darauf größer anschauen.
1. Die Vorbereitung:
2. Der Protest
3. Die Stierjagd
4. Danach
Wir haben dieses Ereignis in unserer Familie besprochen und waren uns alle einig, dass es eine solche Stierjagd nicht mehr geben sollte. Ich bin immer noch gespalten, ob meine Fotos der richtige Weg sind, auf der anderen Seite finde ich es wichtig, dass diese Ereignisse dokumentiert werden. Die Welt besteht nicht nur aus friedlichen Urlaubsfotos, hinschauen und diskutieren, aufstehen und sich wehren. Oft sind gerade solche Reportagen wichtig, um ein Umdenken einzuleiten oder auf Missstände aufmerksam zu machen. Für mich war es eine Erfahrung, die mir moralische Grenzen aufgezeigt hat, ich würde es aber wieder tun.