Katong – ein Spaziergang

Wir gehen ein Leben lang in einem großen, zunächst unsichtbaren Labyrinth spazieren. Die wahre Lebenskunst besteht darin, daß wir auch dann, wenn wir das Labyrinth sehen, weiter spazierengehen.

Sigbert Latzel

Sie geht die steilen Stufen der schmalen Treppe hinunter, die mit winzig kleinen Kacheln gefliest sind. Ihre Schultasche unter dem Arm geklemmt, heute leichter als sonst, die ersten beiden Stunden fallen aus, Zeit zum Bummeln, wie sie es liebt. Unten grüßen die gemalten Hunde von der Hauswand, im Nachbarhaus steht immer noch das kleine Stoffauto auf dem Briefkasten, das dem frechen Nachbarsjungen gehört. Es ist angenehm warm um diese Zeit, die Sonne zeigt sich nach zwei Tagen Dauerregen endlich wieder am Himmel und einige flauschig weiche Wolken ziehen ihre Bahnen über ihrem Kopf. Sie mag das Viertel, in dem sie schon seit ihrer Geburt wohnen, immer gibt es hier Neues zu entdecken oder Altbekanntes zu bestaunen. Der morgendliche Ansturm an Verkehr und Fußgängern ist bereits durchgezogen, jetzt herrscht nahezu Stille und sie hat die schattigen Fußwege unter den Arkaden der Häuser entlang fast für sich alleine.

Vollkommenheit wird nie erreicht,
man sieht sie bestenfalls verschwommen,
weil sie uns deshalb stets entweicht,
denn sie verspricht auch immer nur das Kommen.

Erhard Blanck

Sie mag den orange gerahmten Verkehrsspiegel, der tief genug an der Ecke steht, dass sie hineinsehen kann und sich heute über die Wolken freut, deren Lücken wieder Farbe an den Himmel zaubern. In den Kirschblütenzweigen hängen immer noch die Glücksbringer der chinesischen Familie. Auch wenn die Blüten nicht echt sind und sie einen Frühling nicht kennt, die Zweige erhellen jeden Tag ihr Gemüt, wenn sie daran vorbei geht. Das Viertel ist so herrlich bunt, die alten Häuser erhalten immer wieder einen satten Anstrich. Beim Chiropraktiker, der im blau-türkisen Stadthaus seine Praxis betreibt, steht heute ein Mann am Fenster. Als ob er sie beobachtet. Scheu winkt sie im zu, wartet aber vergeblich auf eine Reaktion. Vorbei geht ihr Weg an dem roten und dem gelben Postkasten, wenn sie schnell genug daran vorbei huscht verschwimmen die Farben und Formen. Am Haus Nummer 323 hängt noch immer der rot glitzernde Weihnachtskranz an der Tür. In den Kugeln tanzt ihr Spiegelbild mit jeder kleinsten Bewegung.

Die meisten Talente entwickeln sich am Ort der größten Vielfalt

Torsten Marold

Ob ihre Mutter sie auch immer so zärtlich im Arm gehalten hat, wie die Frau auf dem großen Wandgemälde? Sie hat noch nie eine solche schwarz-weiß gescheckte Kuh gesehen, und auch Sonnenblumen blühen nie in den Parks der Stadt. Sie wird ihre Lehrerin fragen, in welchem Land sie diese finden würde, die Kühe und die Sonnenblumen.

Bevor sie die Straße überquert lässt sie den Lastwagen vorbei, in dem ihr der Beifahrer ein kleines Lächeln schenkt. Oben bei Tante Li sind die Fensterläden weit geöffnet. Sie ruft laut „Guten Tag“, manchmal ruft die Tante zurück, wenn sie nicht das Radio zu laut gestellt hat und sie hören kann. Der kleine Gemischtwarenladen hat schon geöffnet und seine Klingel auf dem Hocker vor dem winzigen Laden platziert. Manchmal ist sie mutig und klingelt, um dann ganz schnell wegzurennen. Heute mag sie den Besitzer nicht ärgern, vielleicht muss sie nach der Schule für ihre Mutter dort einkaufen und er schimpft womöglich über ihren Streich.

Um ein Kind auf den Weg bringen, den es einschlagen sollte, reise hin und wieder selbst dort entlang.

Josh Billings

Als sie in ihre Lieblingsstraße einbiegt, leuchten ihre Augen mit den bunten Häusern um die Wette. Im Sonnenlicht sind sie noch schöner und es erscheint ihr jedesmal, als ob sicvh ein Regenbogen die Straße entlangzieht. Zuvor biegt sie kurz in die kleine schmale Gasse ab, um den auf der ockerfarbenen Wand gemalten Kindern „Hallo“ zu sagen. Die beiden haben es gut und können auf einer Welle reiten. Ihr Vater erzählte ihr, dass hier früher sehr viele der Peranakans gewohnt haben, Leute wie sie. Die schönen Fliesen an den Häusern zeugen von dieser Kultur. Immer wieder kann sie vor den Eingängen stehen bleiben und die unterschiedlichen Muster und Farben der kleinen quadratischen Kunstwerke bestaunen. Ob in dem rosa getünchten Haus eine Prinzessin wohnt? Aus der Gasse daneben strömt ihr der Geruch von Yamswurzel entgegen. Gleich entdeckt sie den Topf. Auf dem Kocher im Freien bruzelt das Gemüse in Öl und Zwiebel mit einem Schuss Sojasoße. Tante Li kocht ihr ab und zu eine Portion, die fast genau so wie Süßkartoffeln schmecken. Vorbei am endlos in den Himmel wachsenden Kaktus, den auch der Stacheldraht nicht aufhalten kann, nimmt sie die Abkürzung durch die Hinterhöfe, für die letzte Wegstrecke zur Schule.

Wenn du es eilig hast, geh langsam. Wenn du es noch eiliger hast, mach einen Umweg.

Aus Japan

Heute ist das Gitter an der Baustelle einen Spalt geöffnet. Die Arbeiter scheinen sich im Gebäude verkrochen zu haben, es ist still und sie schiebt ihren schmalen Körper in den kleinen Innenhof. Die Wendeltreppe ins Obergeschoss hat auch schon bessere Tage erlebt. Überall bröckelt der Putz und Risse zieren jede Wand. Zwischen den Wasserrohren entdeckt sie ein Paar Gummistiefel, eingeklemmt warten sie auf Regenwetter, dass heute ausbleiben wird. Wer hier wohl einzieht, wenn das Haus fertig renoviert ist? Vielleicht eine Familie mit Kindern. Draußen wartet die Stuhlparade auf Gäste, die sich eine Ruhepause gönnen. Wäsche hängt zum Trocknen im Freien und die beiden Pappkinder stehen noch immer in durchsichtiger Folie gehüllt grinsend in der Ecke beim „Sammler“. Der Mann ohne Hemd nimmt keine Notiz von ihr, auf den Bordsteinkanten sitzt immer wieder jemand zum Rauchen oder für eine Pause. Sie muss sich beeilen, die Zeit drängt jetzt, zu spät kommen mag sie nicht. Aber es gibt einfach zu viel zu Entdecken.

Wo Wege vorgeschrieben sind bleiben Entdeckungen aus.

Erhard Horst Bellermann

Zurück auf der Hauptstraße des Quartiers schreitet sie schnellen Schrittes an den gelben Straßenmarkierungen entlang. In einem der immer geputzten Autos spiegeln sich die Häuser und es scheint sie fliegen dem Himmel entgegen. Stundenlang könnte sie diese Suche nach außergewöhnlichen Blickwinkeln fortsetzen. Der blank polierte Schmetterling ziert die Hauswand eines Restaurants. Er lacht jedesmal, wenn sie ihn sieht. Vielleicht freut er sich, dass ihn jemand bemerkt. Durch die netzförmige Markise eines Geschäfts fühlt sich ihr Blick wie der einer Fliege an. Und der große weiße Teddybär im Minilädchen versteckt sein Gesicht noch immer hinter einer Maske, genau wie sie und die einfach achtlos Weggeworfene vor dem Modeladen hat sich gut getarnt in der Farbe der Fassade. Es kommt ihr so vor, als ob die Pflanzen denen auf den Kacheln gedruckten nacheifern wollen. Wenn die Laternen des Vietnamen ihren Kopf umwirbeln ist sie fast angekommen. Sie freut sich schon ein bisschen auf den Heimweg nach der Schule.

Es kommt nicht darauf an, von welcher Straße Du kommst, denn die Richtung Deines Weges bestimmt, wo Du ankommen wirst.

Aus China

Von Göttern & Konsumtempeln

Der Glaube allein ist kein Garant für heilsames Verhalten.

Dalai Lama

Sie schlendert durch die Straßen. Keiner Suche folgend, die Momente einfangen, die vor das Auge treten. Kampong Glam, das Viertel ist seit jeher von Muslimen und Malayan bewohnt. Sie treiben hier Handel und gehen hier beten. Früher wohnten viele in den kleinen Stadthäusern, die heute fast ausschließlich für Läden oder Restaurants genutzt werden. Es ist ein beliebter Stadtteil, nicht nur die Touristen sind fasziniert vom bunten Treiben, dem Mix der Kulturen und den vielen Köstlichkeiten, die es an jeder Ecke zu essen gibt. Bunte Mosaiklampen zaubern eine heimelige Atmosphäre, wenn sie an einem der Geschäfte vorbei läuft, die diese in zahlreichen Varianten zum Kauf anpreisen.

Umringt von großen Boulevards, umzingelt von Verkehr, eingekesselt von den glänzenden Fassaden der immer nähere rückenden Hochhäuser, trotzt das Viertel mit seinen verwinkelten Gassen, bunten Häusern und seiner besonders in den Abendstunden quirligen Atmosphäre dem Großstadtflair

Zwischen Baustellen, die heute ruhig in der Sonne auf ihre Arbeiter warten, ziehen Tauben ihre Kreise. Die Sonne scheint unermüdlich vom fast wolkenlosen Himmel. Sie wird angezogen von einer goldenen Kuppel, die wie ein Palast am Eingang steht und alles überstrahlt. In der Sultan Moschee, die 1824 in diesem ethnischen Viertel erbaut wurde, finden fünftausend Gläubige Platz. Die Türen sind für sie heute verschlossen, nur Betende dürfen momentan ins Gotteshaus. Den Gesang des Imams hat sie trotzdem im Ohr, als er an einem der letzten Freitagabende in den Gassen zu hören war. Wie gerne würde sie einen Blick ins Innere des Prachbaus werfen. Bestimmt wird es irgendwann wieder möglich sein.

Vorbei an den Läden der arabischen und muslimischen Händler streift sie auf den überdachten Fußwegen. Die Auslagen sind voll mit Kleidung, Schmuck, Ölen und Düften, Bakhoor (Duftpasten zum Abbrennen), Schals und Kopftüchern. Dazwischen kleine Cafés oder Restaurants, aus denen ihr der Gewürzduft in die Nase steigt. Besonders schön findet sie den Laden, der sich auf Geschenkbänder spezialisiert hat. In allen Farben und Größen werden sie im Schaufenster gestapelt angeboten. Wer sollte hier nicht fündig werden.

Auch die geschlossenen Geschäfte fallen ihr auf. Die Krise beutelt selbst in dieser reichen Stadt viele Unternehmer, Kunden bleiben aus, hohe Mieten und Kosten vertreiben sie. Wehmütig schaut sie in die leeren Scheiben und steht mitten in einem Stapel aus Briefen, Rechnungen und Werbeprospekten. Manche der Läden werden gerade renoviert und ein neuer Besitzer versucht sein Glück. Handel funktioniert eben nur mit Kunden.

Die blaue Moschee will sie noch finden, hier in der Nähe muss sie gleich auftauchen. Heute sind keine Pilger, Gläubige oder Prediger unterwegs. Ein bisschen traurig schauen ihr die Schaufensterpuppen hinterher. Auf der gegenüberliegenden Seite rückt sie ins Blickfeld, die Masjid Malabar Moschee. Blaue Mosaik-Kacheln zieren die Außenwände, mehrere goldene Kuppeln trohnen auf den Türmen. Fast wir aus ihren Märchenbüchern, 1001 Nacht, die Bauherren haben vielleicht auch diese Bücher gelesen.

Die Hitze des Tages erfordert eine Abkühlung. An der nächsten Ecke findet sie ein indisches Straßenrestaurant, die es hier zu dutzenden in der Stadt gibt. Immer wird dort Kopi (Kaffee) angeboten, den sie sicvh gerne eiskalt bestellt. Mit gezuckerter Kondensmilch und stark aufgebrüht. Dazu ein Prata, eine Art Pfannkuchen. Genau die richtige Mischung für diesen Moment. Zu den menschlichen Besuchern dieser offenen Küchen gesellen sich überall die Javan Mynah Vögel. Die kleinen schwarzen Frechdachse mit den gelben Füßen laufen meistens, als das sie fliegen. Sie stehlen gerne das Essen, direkt vom Teller, den man daher nie unbeobachtet lassen sollte. Die Nachbarschaft lockt sie weiter. Überall sind nun die Geschäfte geöffnet, kleine Läden mit Haushaltswaren, Bekleidung, Obst & Gemüse oder Weihnachtsdekoration. Neben einem Geschäft für Bilderrahmungen sitzen Leute auf Stühlen vor einem kleineren Laden. Hier können sich die Kunden Passbilder machen lassen und der Andrang ist groß. Ein älterer Herr steht draußen und lockt mit winkenden Gesten immer neue Kunden an.

Einen ganz besonderen Tempel will sie noch aufsuchen, der sich zwischen Hochhäusern, direkt neben dem Markt und Hawkercenter mitten auf einem Parkplatz unter einem alten Baum befinden soll. Der North Bridge Road Tua Pek Kong Temple liegt wie der Name schon sagt an der North Bridge Road. Angeblich sollen Freunde am Strand mehrere religiöse Statuen gefunden und ihnen einen Tempel gebaut haben. Daher werden in diesem kleinen Gebäude Gottheiten aus dem Buddhismus, Thaoismus und Hinduismus verehrt.

Sie staunt nicht schlecht über diese kleine heilige Stätte, die immer wieder von Männern und Frauen aufgesucht wird. Große Räucherspiralen hängen von der Decke herunter. Aus einem Ofen steigen ebefalls Rauchschwaden empor. Die Besucher zünden zarte Räucherstäbchen an, um sie nach einem Gebet in die bereits gefüllte Schale in den Sand zu stecken. Manche Kirche wäre froh, wenn sie so viele Besucher hätte. Hier ist es ganz selbstverständlich, zum Tempel zu kommen und zu beten. Alltag in Asien.

In einem kleinen gelb gefließten Schrein entdeckt sie einen schwarzen Stein, der in einen goldenen Mantel gehüllt ist. Opfergaben liegen vor dem Stein und Blumenschmuck. Sie fragt einen der Besucher was es mit diesem aufsich hat. Es wäre wohl ein besonderer Stein aus Malaysia. Wenn nur alle Religionen so friedlich unter einem Dach „leben“ könnten. Die Musik klingt ihr noch eine Weile im Ohr, als sie in die kleine Markthalle direkt gegenüber geht. Denn meistens gibt es in Tempelnähe auch diese speziellen Läden, die Utensilien für den Tempelbesuch verkaufen. Sie wird fündig und freut sich dem netten Herrn zwei Packungen der sehr speziellen Papiergaben abkaufen zu können. Den Verstorbenen soll es auch im Jenseits gut gehen und so wird ihnen meistens im Geistermonat alles Mögliche geopfert, unter anderem auch Alltagsgegenstände aus Pappe. Diese werden dann verbrannt, um so zum Verstorbenen ins Jenseits zu gelangen. Es gibt z.B. Hemden, Uhren, Parfüm, Radios, Seife, Schuhe und vieles mehr, alles aus Pappe. Aber bitte Markenware, Gucci-Schuhe für 1,80€.

Die Hitze drückt unermüdlich in die kleinen Gassen. Der Schatten wird immer kleiner, je mehr sie sich dem Zenit nähert. Unter den Arkaden der Stadthäuser ist es ein wenig kühler. Vorbei an kleinen Kunstwerken, die in den Hinterhofgassen an die Wände gemalt, gesprüht oder geklebt sind. Dort sitzen oft die Köche der Restaurants und machen bei einer Zigarette Pause. Die Hitze in den kleinen Küchen mag sie sich gar nicht erst vorstellen. Trotzdem lächeln sie zurück, sie sind froh eine Arbeit zu haben in diesen Zeiten. Die Teppich- und Stoffhändler stehen sich die Füße in den Bauch, manche sitzen gelangweilt vor den Handy und schauen Videos. Trostlos sind die Straßen an diesem Mittag, nur vereinzelt betritt ein Kunde eines der Geschäfte. Wie lange sie das durchhalten ist fraglich. Sie hat Mitleid, schließlich steht hinter jedem dieser Menschen oft eine ganze Familie, die das Geld benötigt, um zu überleben. Trotzdem braucht sie heute keinen Teppich, vielleicht einen um wie in 1001 Nacht eine Runde zu fliegen? Wie sonst die Tauben, die sich jetzt auf den Fenstersimsen dicht an die Hauswände drücken, um der Sonne zu entgehen.

Die goldene Kuppel der Moschee weist ihr den Heimweg. Es werden wieder bessere Zeiten kommen. Dann gibt es Feste und Freudentänze. Bis dahin hilft vielen wohl nur das Gebet, zu welchem Gott oder Stein auch immer.

Ich fühl in mir ein Leben,

das kein Gott geschaffen und kein Sterblicher gezeugt.

Ich glaube, daß wir durch uns selber sind,

und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden.

Friedrich Hölderlin

Leer gezogen

Morgenlicht
Glanz vergangener Jahre

Halle-Neustadt, im Volksmund auch Ha-Neu genannt, war eine Stadt im Bezirk Halle der Deutschen Demokratischen Republik und bezeichnet heute die halleschen Stadtteile Nördliche Neustadt, Südliche Neustadt, Westliche Neustadt und das Gewerbegebiet Neustadt.

Sie wurde am 12. Mai 1967 zur eigenständigen und kreisfreien Stadt erklärt, nachdem sie ursprünglich als neuer Stadtteil von Halle (Saale) erbaut worden war. Die Einwohnerzahl betrug 1972 51.600 und 1981 mehr als 93.000. Am 6. Mai 1990 wurde Halle-Neustadt wieder nach Halle eingemeindet. Die Bevölkerungszahl hat sich seitdem etwa halbiert und betrug Ende 2017 46.280 Einwohner.

Die eigentliche Stadtgeschichte begann 1958 mit einer Konferenz des Zentralkomitee der SED zum Thema „Chemieprogramm der DDR“, auf der die Ansiedlung von Arbeitskräften in der Nähe der Chemiestandorte der Buna-Werke in Schkopau und der Leunawerke in Leuna beschlossen wurde. Nach umfangreichen Standortuntersuchungen und Planungen im Bezirk Halle beschloss das Politbüro der SED am 17. September 1963 den Aufbau der „Chemiearbeiterstadt“, wobei die Stadt in größerer Entfernung von den Chemieanlagen errichtet wurde.

Quelle: Wikipedia

Das Zentrum von Halle-Neustadt: die 1970 bis 1975 erbaute und 2005/06 sanierte Neustädter Passage zog meine Aufmerksamkeit am 13. Mai 2018 in ihren Bann. Fünf Hochhäuser entlang der Magistrale in Mitten dieser Passage gelegen, sind alle leer gezogen. Wie eine Geisterstadt zwischen kleinen Geschäften und Imbissbuden, streben sie in den stahlblauen Himmel an diesem sonnigen Morgen. Kein Mensch ist hier unterwegs, es ist Sonntag und um 7 Uhr schläft auch Halle noch. Die einzigen letzten oder neuen Bewohner sind zahlreiche Tauben, die es sich auf den Balkonen, Betonvorsprüngen und Fenstersimsen gemütlich machen. Sie kreisen durch die Häuserschluchten und gurren einem neuen Tag entgegen. Ihre neugieren Blicke flogen mir auf Schritt und Tritt. Überall auf dem Boden findet sich Taubendreck und Gefieder, trotzdem verleihen sie dieser Szenerie etwas Schönes. Sie stören sich nicht daran, dass hier keiner mehr wohnen will. Sie haben eine Heimat hier gefunden und trotzen dem Treiben, das hier wohl an den Wochentagen herrscht.

Abgerissene Plakate, sogar eins aus dem Jahr 1994 zieren die Wände, die den Grafittimalern ideale Bedingungen bieten, sich hier auszutoben. Pandabären, Schriftzüge, Drachen und viele andere Motive lassen sich finden und bringen ein bisschen Farbe ins Spiel zwischen all dem Beton, der hier verbaut wurde.

Mich erschlägt die Größe und die Masse an Wohnungen beim wiederholten Blick nach oben. So viele Menschen haben hier Jahre ihres Lebens verbracht; Alltag, Nachbarschaft, Feiern, Abschiede, … Auszug.
Man kann sagen was man will, die 1990 Jahre brachten dem Osten nicht nur neue Währung und Freiheit. Gerade meine Generation „flüchtete“ weil es einfach zu wenige Arbeitsplätze gab. Auch eine gute Freundin zog weg aus Halle-Neustadt und lebt seit vielen Jahren im Südwesten der Republik. Oft führen Gespräche über unsere verlassene Heimat und die Chancen, die wie dort vielleicht gehabt hätten.

Die Zahl der Rückkehrer hat zwar mittlerweile wieder zugenommen, ob sie diese Massenflucht jemals ausgleich können, bleibt fraglich. Auch wir wagten den Schritt bisher nicht, die Chancen sind für uns nach 20 Jahren im westlichen Teil der Republik wohl auch eher gering. Es stimmt mich denoch traurig und oft auch enttäuscht, dass dazu der Mut fehlte oder die Umstände einfach nicht passten. Ich würde mir wünschen, dass die nächste Generation es angeht und den Osten als das sieht und begreift was er ist. Lebenswert, voller Energie und ein Platz für gute Ideen.

Wer in Halle vorbei schaut sollte sich unbedingt auch die schöne Altstadt anschauen und einen Ausflug in die Dölauer Heide unternehmen, Natur vor der Haustüre.

Dokumentation der Platte Halle-Neustadt ist für mich ein gewisser Teil Aufarbeitung der Vergangenheit, auch meiner eigenen. Der Rückbau wird wie in vielen Neubaugebieten wohl die einzige Option sein.

Eingang
Bio

Blockhaus
Blauer Streifen

Taube auf dem Blechdach
Wächter(in)

Sonne
Sonnengruß

Fenster
Fensterfront

Panda
Brandwunden

Hinterhof
Hinterhofgeschichten

Laterne
Auf der Laterne

Herren
Haushaltswaren

Pizza
Pizzahaus

Balkon
Balkonien

Eis
Kein Eis in Neustadt

Leer
Menschenleer

Statue
Haltloser Verfall

Profi
Profi Flieger

Taube
Abflug

Beobachter
Beobachtungsposten

7
Keine Sieben mehr hier.

Netz
Fallnetz

Markt
Mix-Markt

Abstieg
Blauer Abstieg

Block 009
Blockschrift

14
Hoch gebaut und tief gefallen.

Plakat
1994 – Gysi sprach.

Panda
Tanzender Bär.

Wohnbau
Das ist nicht wohnen!

Abgerissen
Nichs mehr los.

Tauben
Neue Bewohner!

Badewanne
Freibad

Balkon
Balkonien hat ausgedient.

Vogel
Einsamer Vogel.

Durchzug
Auf Durchzug

Kante
Abrisskante

Sammler
Lumpensammler

Taubenpaar
Paarlauf

Spruch
Jung und billig

Mülleimer
Natürlich im Eimer

Verlassen im Wald

Die Volksheilstätte, idyllisch in einem kleinen Tal im Osten der Republik gelegen, diente von 1899 bis 1965 zur Behandlung lungenkranker und an Tuberkulose leidender Patienten. Eingeweiht wurde der heute unter Denkmalschutz stehende Komplex durch Carola, Prinzessin von Wasa, die als Gemahlin von König Albert I. die letzte Königin von Sachsen war. Bis zur Schließung der Heilstätte verfügte das Hauptgebäude über fünf Stationen – darunter eine für schwerste Tuberkulosefälle – mit insgesamt 155 Betten ab Eröffnung und 205 Betten ab 1925. Weiter waren auf dem Gelände Laboratorien und spezielle Behandlungsräume, Liegeflächen und Versorgungseinrichtungen wie Wäscherei, Küche und Speisesaal angeschlossen.

1966/67 bis in das Jahr 1994 wurde ein Großteil der Gebäude zur Behandlung und Pflege geistig behinderter Kinder und Jugendlicher umfunktioniert. Hierfür entstand auch eine kleine Sporthalle, für die die ehemalige, aber entweihte Kapelle umgebaut wurde. Einige Jahre später erweiterte man das Gelände um zwei Wohnbauten, um das Personal unterzubringen. Von 1996 bis einschließlich 2000 diente die ehemalige Heilstätte als Wohnpflegeheim. 2004 kaufte ein ausländischer Investor das Gelände, ließ die Substanz jedoch weiter verfallen. In 2013 wurden im Haupthaus neue Fenster eingesetzt, das Dach wetterfest gemacht und der Glockenturm mit neuem Kupfer versehen. Seitdem ist nichts weiter geschehen. Die beiden Wohnblocks sowie kleinere Wohngebäude sind heute von Privat bewohnt. (Quelle: http://www.rottenplaces.de/)

Fenster mit Stuhl
Einstieg

Hinteransicht
Freigang

Im April machte ich mich an einem kalten und nebeligem Morgen in den Wald auf, um mich in der ehemaligen Lungenheilanstalt umzuschauen. Der dem Verfall preisgegebene und fast komplett leer geräumte Gebäudekomplex zog mich sofort in seinen Bann. Etwas unheimlich und mulmig war es mir dann doch zumute, als ich allein durch die langen Flure und Zimmer streifte, die Stimmung dort für mich in Bildern festhielt und mich in die Kinder und Jugendlichen hinversetzte, die hier zu DDR Zeiten wohl auch über einen längeren Zeitraum lebten. Abgeschirmt von der Außenwelt, in absoluter Ruhe irgendwo im Nirgendwo. Sicher war dort trotzdem Leben, Lachen und Musik in den Räumen und ich hege die Hoffnung, dass viele von ihnen die Krankheiten überwunden haben.

Toilette
Waschplatz

Fenster Blick
Fenster ohne Aussicht

Dschungelbuch
Türen-Dschungel

Matrose
Kunst am Fenster

Immer wieder fand ich noch Spuren der Kinder, bemalte Türen, kleine Bastelarbeiten, ein Puzzle auf dem Fensterbrett, Plakate von beliebten Musikbands an den Wänden, die Zeit schien stehengeblieben zu sein. In Gedanken bin ich in der Zeit und stelle mir vor, wie der Tagesablauf hier gewesen ist, Düfte aus der Küche ziehen durch die Flure. Hätten ich hier Heimweh gehabt – sicher doch.

Grafitti
Küchendekoration

Fließen
Alles fließt davon.

Küche
Leerraum

Dachboden
Dachbodenfund

Ich bin keine „Lost Places“ Jägerin, nicht ständig auf der Suche nach diesen Orten. Dennoch üben sie immer wieder eine gewisse Faszination auf mich aus, der ich nicht widerstehen möchte. Ich sehe eher eine Spurensuche darin, die Vergangenheit festzuhalten, bevor sie ganz verschwunden ist. Diesen Ort kannte ich nur vom Hören Sagen, nie war ich während meiner Kindheit dort und trotzdem gehört er zu meiner Heimat. Ein Grund genug, einen Blick zu wagen und wenn auch nur zu Dokumentationszwecken diesem Bauwerk und den Menschen, die hier arbeiteten und lebten eine Erinnerung zu bewahren.

Zeitung
Osterlektüre

Fenstermalerei
Sterntaler

Waschbecken
Zwischen den Türen

Saal
Traumwelten

Lampen
Lichtblick

Fenster
Mauerwerk

Den großen Saal entdeckte ich erst am Ende meiner Tour, da ich den Hintereingang gewählt hatte, um kein Aufsehen in der kleinen Siedlung zu erregen, was natürlich schief ging, weil ich auf einer privaten Wiese mit einem Auto und auswärtigem Kennzeichen parkte. Der einzige nette Nachbar hat mich dann mit Rufen ausfindig gemacht (Schreck noch immer in den Knochen) und mich gebeten das Fahrzeug zu entfernen, bevor die aufgeregten Eigentümer die Polizei rufen würden (Kleinbürgertum lasst grüßen). Als hätte ich dort noch Stunden geparkt und die Wiese zerstört. Die Polizei hätte vermutlich den Ort gar nicht gefunden, denn an diesem Tag gab es eine Umleitung, und wir hatten schon Mühe überhaupt dorthin zu gelangen.

Im Saal reichten die Fenster an beiden Seiten bis unter die Decke und sogar die Gardinen hingen noch flatternd im Wind. Ein paar andere Fotografen hatten vermutlich für authentische Bilder alle Pflegebetten im Saal aufgereiht. Ich muss zugeben, so wirkte der Raum noch größer und ich bekam einen Eindruck, wie hier wohl früher die Patienten ihre Mahlzeiten einnahmen oder den Raum als gemeinsamen Aufenthaltsort nutzen. Er strahlte jedenfalls immer noch herrliche Ruhe aus. Die Architekten hatten ganze Arbeit geleistet, ein Platz zum Wohlfühlen.

Saal
Flutlichter

Betten in Reihe
Bettreihe

Gardine
Vorhang auf

Bettgestell
Gitternetz

Wind
Luftzug

Im oberen Stockwerk zeigten sich dann erste Wasserschäden, Moos bedeckte den Boden eines Raumes. Wenn der Eigentümer nichts dagegen unternimmt, wird dieses Gebäude sicher irgendwann total zerstört sein, abgerissen werden müssen – es wäre nicht das erste in dieser Region, die seit der Wiedervereinigung viele Gebäude verloren hat. Vielleicht findet sich eine Idee und ein Liebhaber, der dieses Ensemble rettet, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ein Trauerspiel mit offenem Ausgang.

Mooszimmer
Wiesengrund

Stuhl
Kein Platz zum Verweilen

Türen
Farbenspiel

Plakate
Wandbilder

Badezimmer
Schönheitskur

Musik
Take That

Baujahr
1900

Gebäude
Ausgang offen