Öffne Deine Augen

Satte Augen gibt es nicht auf der Welt.

Aus Russland

Immer wieder zieht es ihn hinaus, in die Gassen seines Viertels, der Hitze und dem gleisenden Licht trotzend, geht er Meter um Meter, die Augen weit geöffnet, die Ohren gespitzt, alle Sensoren scharf gestellt, für die kleinen alltäglichen Augenblicke, die unentdeckten Kleinigkeiten, deren Existenz die Essenz des Lebens ausmachen. Alles Menschliche, Künstliche, Verspielte, Sachliche, Vertraute, Ungewohnte. Er ging schon lange mit offenen Augen durchs Leben, hielt die in seinen Augen festzuhaltende Momente fest, legte sie ab im Gedächtnisspeicher, später auf Filmen, Festplatten, Servern und in Büchern. Sein Schatz, der sich ausbauen ließ zu einem kleinen persönlichen Vermächtnis. Wer würde ihn entdecken, finden, bewerten, schätzen, bewahren?

Wie Schatten huschten die Menschen heute an ihm vorbei, gingen ihres Wegs, manche eilig, einige eher gemütlich. Sie suchten den Schatten, blieben im Verborgenen, wie Scherenschnitte im Papiertheater. Ein Koffer, abgestellt, aussortiert, hergeschenkt, keiner sieht ihn, er dient als Mülleimer, Reisen scheint aus der Mode gekommen, so entsorgt man seinen Balast, befreit sich von Dingen, die unwichtig sind in Zeiten wie diesen. Der Schönheitsalon hat auch schon bessere Tage erlebt, die Kunden verlangen gerade eher nach Seelenheil, als Gesichtsglanz. Liebe und Essen ein Versprechen an alle Hungrigen. Wer möchte nicht satt und geliebt sein, seine Augen werden niemals satt. Krishan hat sein Fenster weit geöffnet, lässt Sonne und Licht ins Haus, vielleicht ist er schon wieder eingeschlafen auf seinem Sofa, die Straße ist so ruhig, als ob alle auf einen großen Knall warten. Nichts regt sich, noch nicht einmal die Katze traut sich heute vor die Tür.

Teo, der alte Sammler, könnte einen Schirmverleih eröffnen. Er scheint viele Kunden zu haben, die ihre Schirme einfach vergessen, wenn der Regenschauer während des Einkaufs in seinem kleinen Laden, schon um die nächste Ecke weitergezogen ist. In seinem kleinen Transporter vor der Tür stapeln sich die Parkzettel hinter der Frontscheibe. Er bleibt wahrscheinlich bis zu seinem Ableben der klassischen Version dieses Bezahlszsystems treu, Apps mag er nicht. Seine kleine Eisenwarenhandlung überlebte viele Jahrzehnte, schon sein Vater stand hier vor den kleinen Schubladen voller Schrauben, Nägel, Muttern, Scharnieren und Haken. Wie ein Dinosaurier überzieht eine faltige Haut seinen Körper. Zeit für einen Kopi hat er immer, und so sitzen sie für ein paar Worte zusammen und schweigen dann wieder, um die Ruhe des Morgens zu genießen.

Die Moschee trägt seinen Namen, vielleicht wurde Abdul nur deshalb ins Hausmeisterteam aufgenommen. Er kümmert sich Freitags immer um die Sauberkeit rings um das Gebäude und nimmt keine Notiz von ihm und seiner Kamera, als er die Gehwege mit seinem langen Wasserschlauch akribisch säubert, damit die Gläubigen heute sauberen Fußes zum Gebet kommen können. Immer fröhlich hebt er dann kurz die Hand zum Gruß und schenkt im sein Lächeln. Gegenüber trudeln die ersten Kunden des Barbers ein, Bärte wollen gestutzt und Haare geschnitten werden. Die bemalten Beine gab es 1907, als die Moschee dicht neben dem Indischen Viertel errichtet wurde, wohl noch nicht, heute gehören sie auch hier zum Straßenbild und sind ein Hingucker. Bei Sing Hong ist alles ruhig, die Ware steht noch verpackt unter großen Planen vor dem Geschäft und wartet darauf, an einen Zweit- oder Drittbesitzer verkauft zu werden. Hier hat er auch schon das eine oder andere Schmuckstück für seine eigenen vier Wände gefunden.

Um zu sehen, mußt du die Augen offen halten. Um zu erkennen, mußt du sie schließen und denken.

Unbekannt

Mit den Tauben pflegt er schon zeitlebens eine enge Freundschaft, immer hat er ein paar Körner für sie in seinen Hosentaschen. Sie warten am Wasserplatz, einer nicht tierfreundlichen aber stets tropfenden Stelle abseits der Hauptstraße. Oft werden sie von den Taubenverachtenden verjagt, was sein Herz schmerzt. Er schaut ihnen beim Picken zu und erfreut sich über das Gurren, verabschiedet sich und zieht weiter zu den knallbunten Häusern der Nebenstraße. So viele Wechsel gab es hier, Läden eröffneten und mussten wieder schließen, jetzt werden nur sehr selten neue eröffnet und stehen auf unbestimmte Zeit leer. In vielen Briekästen liegt die Post wochenlang und vergilbt schon. So blutet auch dieses Viertel langsam aus, wie ein sterbendes Tier.

Wie zum Trotz folgt ihm eine der Federfreundinnen und postiert sich auf dem Schild des malayischen Restaurants. Sie blickt in Richtung der vielen kleinen Türme der Abdul Gafoor Moschee direkt gegenüber. Unter den Arkaden der Häuserzeile ist es um diese Zeit erträglich, die Hitze strömt durch die Straßen. Im Schatten sitzend genießt sein betagter Freund eine Pause, beobachtet die Szenerie vor dem Laden von seinem Plastikhocker aus. Für morgen verabreden sie sich auf eine Runde Mah-Jongg, damit sind sie beide ein paar Stunden beschäftigt. Zeit für Tee, Neuigkeiten und die eine oder andere Süßigkeit.

Das Footprints Hostel wird geschlossen! Die Nachricht erreichte ihn vor ein paar Tagen, er wollte es selbst sehen. Keine Gäste seit Monaten, keine Einnahmen, kein Geld für die Angestellten. Alles muss raus, das Gebäude wird leer gezogen, die Straße davor füllt sich mit dem kompletten Inventar. Vieles davon ist nicht mehr zu gebrauchen, eignet sich vielleicht gerade noch als Sitzmöbel vor dem Haus. Matratzen, ein Kickertisch, eine Knetmaschine, Spiegel, Lampen und Pflanzen, die schon bessere Tage gesehen haben. Es ist ein trauriger Anblick und so richtig einordnen lässt er sich nicht. Was wird jetzt kommen? Wer wird hier etwas Neues aufbauen? Ob König Jesus darauf eine Antwort weiß, er ist sich nicht sicher.

Überall um das Gebäude herum findet er Dinge, die wohl mitgenommen wurden und jetzt den Besitzer wechseln. Auch Herr Li hat gerade viel zu tun, er reinigt das Quartier. Immerhin findet er momentan genug Sitzgelegenheiten für seine Zigarettenpause.

Wenn ich das Leben noch einmal leben könnte, würde ich es wieder so wollen, wie es war. Ich würde nur mit offenen Augen durchs Leben gehen.

Jules Renard

Er mag die Menschen hier in seinem Viertel, auch jene, die keine Notiz von ihm nehmen, weil sie unentwegt in die kleinen rechteckigen Geräte blicken. Als gäbe es die wahre Welt schon gar nicht mehr. Kostbare Zeit für die Augenblicke des Lebens ziehen an jenen vorbei, unbemerkt, verpasst, verloren für immer. Er wird sie weiterhin suchen, mit offenen Augen die Welt betrachten, ihre Vielfalt, ihre Schönheit, ihre Brutalität und Erbarmungslosigkeit, ihren Stolz und ihre Liebe. Er kann einfach nicht damit aufhören.

Jetzt knurrt sein Magen und will gefüllt werden. Es gibt nichts besseres als eine kräftige Nudelsuppe.