Geschichten erzählen, die noch keiner weiß …

„Geschichten erzählen von Freude und Fleiß. Geschichten erzählen, die noch keiner weiß. Frag doch die Leute, frag doch die Leute mmh… mmh…“ diesen Gingle von Reinhard Lakomy, der manchmal vor dem DDR-Sandmännchen lief, könnte man auch im indischen Alltag öfters singen. Inder lieben Geschichten und viele haben wir nun mittlerweile auch gehört. Klappt es mit einer Verabredung zu einem Essen nicht, sagt der Inder nicht einfach: Ich kann heute nicht kommen. Nein, da wird eine blumige Geschichte erfunden, um die Absage zu begründen. In der Art, dass die Schwiegermutter plötzlich einen akuten Schwächefalle erlitten hat und man jetzt erst einen Arzt konsultieren muss.

Unsere erste Hausangestellte rief gleich am dritten Arbeitstag an, um zu berichten, dass ihr Bruder im KH liegt und eine schwere Operation bevorstünde. Alle Familienmitglieder müssen jetzt Blut spenden. Auch unser Fahrer hat schon einige Geschichten erfunden, welche davon wahr und welche eher etwas gemogelt sind, können wir nach knapp vier Monaten hier noch nicht ganz herausfinden. Der Hinduismus verbietet jegliche Form von negativem Handeln, weil sonst im nächsten Leben kein höherer Status erreicht werden kann. Ein „Nein“ bedeutet für viele Inder automatisch ein negatives Handeln, also wird zu allem „Ja“ gesagt oder „Das geht schon“ oder „Kein Problem“. Das berühmte Kopfwackeln der Inder bedeutet eigentlich ein Ja obwohl es manchmal eher wie ein Nein aussieht. Mich macht das oft sehr konfus und ich frage dann lieber nach, ob es jetzt ja oder nein bedeutet.

Ein weiteres sehr indisches Phänomen ist die unwahrscheinliche Langsamkeit, mit der hier die Dinge erledigt werden. Komm ich heute nicht, komme ich morgen vielleicht auch nicht, bedeutet hier oft ich komme gar nicht. Unserem Zeitungsmann mussten wir drei mal anrufen, bis er kapiert hat, dass wir die Zeitung gern täglich haben möchten. An das langsame Laufen habe ich mich mittlerweile gewöhnt, teilweise schlafen die echt fast ein beim Laufen. Und das kann nicht nur an der Hitze liegen, die hier die meiste Zeit herrscht. Ich glaube die Uhren ticken hier einfach langsamer. Besonders nervig empfinde ich die Wartezeit beim Abkassieren im Laden. Da hat man nach 10 min. seine Waren gefunden und an der Kasse dauert es dann 30 min, bis endlich bezahlt ist. Manchmal muss die Quittung per Hand geschrieben werden, das Wechselgeld muss im Nachbarladen besorgt werden oder der Kartenleser funktioniert erst beim dritten Versuch. Zum Glück gibt es den Einpackservice im Supermarkt, so muss man dann wenigstens nur noch die Tüten in den Wagen laden.

Eine seltsame Geschichte ist mir jetzt auch mit meiner Sonia passiert. Deren Schwester hat vor ca. 2 Monaten einen Jungen zur Welt gebracht. Auf die Frage nach dem Namen erzählte sie mir, dass dieser noch nicht entschieden sei und das erst bei der Taufe bekannt gegeben wird. Den Namen legt auch nicht die Mutter zusammen mit dem Vater fest, sondern meistens der Opa oder Mann allein. Die Mutter des Kindes hat meistens kein Mitspracherecht. Nach gut zwei Monaten hat der Junge immer noch keinen Namen und die Taufe ist ebenfalls noch nicht terminiert. Jetzt fragte mich Sonia, ob ich nicht einen Namen für den Jungen aussuchen könnte. Eine große Ehre? Ich habe mich dann für eine Liste mit mehreren Namen entschieden und diese weitergegeben. Vielleicht bekommt er davon einen, ansonsten würde ich mich freuen, wenn er überhaupt mal einen Namen bekommt.

Indische Gastfreundschaft erlebten wir bei einem Besuch von Steffens Kollegen. Der wohnt ganz untypisch nur mit seiner Frau und Tochter in einem Apartment. Normalerweise wohnen immer die Eltern, Großeltern oder auch Tanten/Onkel, Geschwister mit im Haus. Dieser Kollege hat aber bereits im Ausland gelebt und unterscheidet sich etwas vom normalen Lebensstil. Wir waren zum Abendessen eingeladen und nach einem Begrüßungskaffee (sehr süß, sehr viel Milch) und einem Spaziergang im Wohngebiet wurden wir an den Tisch gebeten. In Indien essen die Gäste nie zusammen mit den Gastgebern, sondern werden von diesen bedient. Mit einem komischen Gefühl setzten wir uns also allein an den Tisch und ließen uns die Speisen erklären und servieren. Auch die Tochter des Kollegen durfte nicht mit uns essen, sondern sollte warten, bis wir fertig sind. Diese Tradition ist für uns Europäer schon sehr befremdlich, denn die Esskultur mit gemütlichem Beisammensitzen und gemeinsamen Genießen der Speisen geht dabei etwas verloren. Der Kollege meinte dann, dass bei großen Familienessen immer erst die Männer am Tisch sitzen und essen. Die Frauen bedienen erst die Männer und essen später meistens auch in der Küche, wenn die Männer fertig sind.

Ein besonderes Highlight war mein Besuch im Haus unseres Fahrers. Der will im Dezember umziehen und wollte mir gern vorher noch sein altes Zuhause zeigen. Also sind wir auf dem Weg zu meinem Schulprojekt dorthin gefahren. Das Viertel ist richtiges Indien, wie man sich es vorstellt. Da tobt das Leben auf der Straße, es gibt viele kleine Häuser und Hütten, es wird vor der Tür gekocht, die Wäsche hängt überall zum Trocknen, die Menschen versorgen sich an kleinen Läden oder stehen wie an diesem Tag seit morgens um 3 Uhr Schlange, um einen Kanister staatlich zugewiesenes Kerosin zu ergattern. Die Straße vor seinem Haus wird gerade umgegraben für neue Wasser- und Abwasserleitungen, also mussten wir ein Stück laufen. Das Haus ist sehr klein und die gesamte Breite des Hauses (ca. vier Meter) ist dann auch die Länge des Wohn-/Ess-/Aufenthaltszimmers. Daneben gibt es noch ein winziges Schlafzimmer, in das gerade ein Doppelbett und ein Schrank passt, ein Miniküche und vor der Tür ein Toilette. In dieser kleinen Wohnung (bei uns wäre es eine Studentenbude) wohnt er mit seiner Frau und drei Kindern (18, 16 und 11 Jahre). Daneben wohnen oft auch seine Mutter und seine Schwester noch bei ihm. Wenn man das gesehen hat, kann man vieles verstehen und begreift, wie die meisten hier wirklich wohnen. Eine Dusche gibt es nicht, da muss ein Eimer herhalten. Im Wohnzimmer steht eine kleine Couch, ein Kühlschrank und ein kleiner Schrank für einen Fernseher und einen uralten Computer. Es gibt keinen Tisch zum Essen oder Hausaufgaben machen, die wenigen Spielsachen der Kinder stehen in Glasvitrinen, die in der Wand eingelassen sind. Abends werden Matratzen und Bettsachen im Wohnzimmer auf dem Teppich ausgebreitet und dort schlafen dann meistens die Kinder und die Oma. Es gibt Strom und auch Gasflaschen zum Kochen, Wasser ist oft ein Problem und muss manchmal von einem Tanklaster geholt werden. Danach fuhren wir dann zum neuen Haus, wo er eine größere Wohnung mieten möchte. Dort gibt es mehr Platz (ein großes Wohnzimmer) und zwei Schlafzimmer. Außerdem ein Bad mit Toilette und Dusche, wahrer Luxus. Zum Einzug ins neue Zuhause wollen wir seinen Kindern einen Schreibtisch mit Stuhl schenken.

Viele neue Fotos von meiner Fototour durch Bangalore auf www.ella-thoss.de Einige hier schon vorab:

Tuk Tuk
Tuk Tuk Achtung Schnell
Nandi
Nandi-Kuh
Waage
Waage vor Heiligenbildern auf dem Markt

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