Passion Paris – Abschied

Zeit Abschied zu nehmen von dieser inspirierenden Stadt und ihren Menschen, Geschichten, Motiven. Noch einmal will sie eintauchen in die Umgebung des Montmartre und folgt an diesem letzten Tag den Straßen in Richtung des Hügels. Zuvor bestaunte sie an diesem Morgen eine Fotoausstellung im Jeu de Paume der Künstlerin Tina Barney.

Ein bisschen Wehmut liegt auf ihrem Herzen, sie mag keine Abschiede. Nie weiß sie, ob es für immer sein wird oder sich noch einmal die Chance bietet eine Stadt, ein Land, einen Menschen wiederzusehen. Das Leben ist allerdings voller Abschiede. Jeder Atemzug verabschiedet sich beim Ausatmen für immer aus dem Körper. Sie weiß, es ist kein Abschied für immer. Es muss ein nächstes Mal geben!

Ein junger Mann sitzt mit dunkler Kleidung auf einem der fünf knallgelben Plastikstühle in der Metrostation, lässig hat er sein rechtes Bein übergeschlagen, vor ihm hat er einen Elektroroller geparkt. In seiner Hand hält er ein Telefon, auf dem vielleicht gerade eine Nachricht eingeht, mit dem sich seine Freundin nocht einmal verabschiedet. Sie studiert in Lillé und er hat sie zum Bahnhof gebracht. Vermutlich interessiert in das Kinoplakat hinter ihm überhaupt nicht. In einem Monat könnte einer der beiden Darsteller Präsident der USA werden und die Welt wird neue Herausforderungen meistern müssen. Abschiede auf vielen Ebenen.

Sie steift wie eine Katze durch das bunte Viertel, bleibt hier und da stehen, um das Geschehen und die Vielfalt aufzunehmen. Schaut in alle Richtungen, in Schaufenster und offene Türen, erfreut sich an den kleinen Dingen, die jede Gasse oder Straßenecke zu bieten hat. Die Taube auf dem Dach der Drogerie putzt ihr Gefieder. Freundlich grüßt der Besitzer vor seinem kleinen Café und lädt sie ein wiederzukommen, wenn er geöffnet hat.

82 Bd de Clichy, 75018 Paris, Frankreich – hier steht die berühmte rote Windmühle des Dinner- Theaters Moulin Rouge, die jeder Tourist zumindest einmal gesehen haben will. Am späten Morgen ist es in den Straßen des Vernügunsviertels beschaulich ruhig. Der Dreck der vergangenen Nacht wird weggeputzt, kleine Reparaturen vorgenommen, die aktuellen Zeitungen aus dem Kiosk an Kunden verkauft, viele der Restaurants haben noch geschlossen. Die Nacht ist hier die belebtere Zeit, wenn alle kommen, um die Lichter zu bestaunen oder sich Freude zu erkaufen.

Warum liegt dieser Mensch mitten auf dem Gehweg? Eingepackt wie eine Mumie?

Der Mensch ist eine Frage. Menschsein ist die Antwort.

André Brie

Zum Abschluss kehrt sie in eines dieser typischen kleinen Restaurants ein, die hier in unzähliger Anzahl zu finden sind. Sie lässt sich Tee und eine Gallette mit frischen Feigen, Nüssen und Honig bringen. Bewundert die attraktive Bedienung, die eher in einem französischen Film mitspielen könnte. Schaut von der Galerie aus auf die belebte Straße unter ihr, auf der unablässig Passanten vorbeiströmen. Gegenüber wird ein Appartment renoviert. Die beiden Bauarbeiter machen gerade eine Zigarettenpause. Sie träumt sich in diese Wohnung und stellt ein Leben hier in Montmartre vor. Sie könnte die Frau kennenlernen, ihre Geschichte hören, sie fotografieren … Wer weiß …

An eine, die vorüberging:

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang. In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft, Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft den Saum des Kleides hob, der glockig schwang; anmutig, wie gemeißelt war das Bein. Und ich, erstarrt, wie außer micht gebracht, Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht, sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein. Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren, durch deren Blick ich jählings neu geboren, werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn? Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt, Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

Charles Baudelaire

Au revoir et merci Paris – tu es belle!

Passion Paris – Tag 4

Nur produktives Schaffen rettet vor dem modernen Elend. Es wird uns nötigen, über die Fragen, die nie alt werden, nachzudenken: über das Woher? Wie? Warum? Wohin? Es wird uns zwingen, uns mit dem Leben auseinanderzusetzen und nach seinem Sinn zu fragen. Das ist vergebene Liebesmüh, werden die Herren Gelehrten sagen, aber doch Liebesmüh! Euer Schaffen aber ist Insektenarbeit.

Jakob Bosshart

Die Liebe wohnt in Paris! Das spürt sie mit jedem Schritt in den Straße dieser Stadt, die sich ernsthaft Mühe gibt, diese Liebe nicht zu kitschig und klischeehaft werden zu lassen. Sie mag keine eingefahrenen Vorstellungen und macht sich gerne selbst ein Bild, ob stimmt, „was erzählt“ wird. Angesichts der prachtvollen Architektur, der zahlreichen Angebote für Kunst und Kultur, den geschmackvoll gekleideten Menschen und der köstlichen Küche inklusive dem Wein und natürlich dem berühmten Laissez-faire ihrer Bewohner, verliebt sie sich trotz aller Vorurteile sofort und heftig. Jede Ecke ist liebenswürdig und sie hätte große Lust, sofort auf der Stelle alle Viertel ausgiebig zu erkunden.

Den Louvre und Notre Dame, die Opéra Garnier sowie den Palais de Tokyo hebt sie sich für die nächste Reise auf. Eigentlich mag sie keine Einkaufstempel, aber die Galeries Lafayette Haussmann ist dennoch einen Besuch wert. Das historische Kaufhaus überspannt eine Jugendstilkuppel, auf vier Etage wird angeboten, was viele Herzen begehren. Ihres schlägt dort nicht für den Konsum, nur für die Farben und das Licht. Aus der Ferne beobachtet Sie die extra zum Fotografieren installierte Glasbrücke, an deren Zugang sich eine Menschentraube bildet.

Sonnenlicht und kühle Luft erwartet sie draußen, in den Straßen füllen sich heute nur langsam die Gehwege. Sie kann den Blick schweifen lassen, im Augenblick versinken, den Moment abpassen. Das Herz der Stadt schlägt immer im gleichen Rhythmus, egal ob friedliche Stille oder panische Hektik herrscht. Wer ihn spürt, kann sich treiben lassen und im Takt der Herzen mitschwingen.

Lass die Liebe vorangehen, wenn du von ihr erhört werden willst.

Wer liebt findet sich selbst.

Die Zeit vergeht ohne Mühe, weder Schritte zu zählen noch auf die Uhr zu schauen, kommt ihr in den Sinn. Die Pont Alexandre III wurde nach einem russischen Zaren benannt. Die Erbauer der Brücke und der sich darauf befindenden Statuen waren detailverliebt und lassen sie staunen. Immer wieder blitzt es golden von den Figuren gegen den blauen Himmel, an dem sich Wolken gegenseitig fangen wollen. Der breite Fluß trägt voll besetzte Ausflugsboote unter der Bogenbrücke hindurch. Nichts scheint diese Idylle zu stören, wie aus der Zeit gefallen stehen die Menschen und lassen die Schönheit und den Prunk auf sich wirken. Sie empfindet keine Scham sich ihnen anzuschließen, sucht die versteckten Momente, die das Gefühl in diesem Moment spiegeln.

Man suche die leuchtendsten Augenblicke seines Lebens und analysiere sie, und man wird finden, dass in der Regel die Liebe im Spiele war. Die Liebe setzt dem Leben das Gold auf.

Jakob Bosshart

Fast heimlich muss der beste Platz als Altar für Hochzeitsfotos herhalten. Wem kann man es verwehren, sich in der Stadt der Liebe zu vermählen? Die Welle der Liebe scheint hier unaufhaltsam durch die ganze Stadt zu rollen. „Warum nicht“ denkt sie und verlässt diesen Schauplatz der Liebe.

Immer dann, wenn man spürt, dass Routine sich einschleicht, sollte man etwas Neues machen.

Max Reinhardt

Ein bisschen übertrieben findet sie diese Inszenierungen einzelner schon. Das Ausfsehen erregen ist eine eigenartige Gewohnheit geworden. Sie findet Spaß daran, diese kleinen Schaupiele einzufangen. Die Einheimschen scheinen daran gewöhnt zu sein. Mit scheinbar stoischer Gelassenheit zieht einfach alles an ihnen vorbei. Man muss sie einfach schon für ihre Toleranz ins Herz schließen.

Der Eifelturm rückt immer näher, sie hat ihn fast einmal umrundet. Jetzt ist er zum Greifen nah und lockt sie in seinen Bann. Fein rausgeputzt nach den olympischen Feierlichkeiten strahlt er mit der warmen Nachmittagssonne um die Wette. Sie kann ihm nicht widerstehen und macht sich auf dem Weg zum Champ de Mars.

Mir ist auf der Straße ein sehr armer junger Mann begegnet, der verliebt war. Sein Hut war alt, sein Mantel abgetragen; Wasser rann durch seine Schuhe. Aber Sterne zogen durch seine Seele.

Victor Hugo

Eine gute Freundin sagte ihr einmal „Zeit ist Liebe.“ Es stimmt, Zeit und Liebe habe etwas gemeinsam – sie sind sehr kostbar.

Paris Passion – Tag 2

Die erste Nacht ist kurz, der Morgen noch nicht in der Stadt, Ruhe herrscht im Hotel, in der Metro und auf den Straßen. Nur Fotoverrückte sind jetzt unterwegs und einige wenige Menschen, die arbeiten müssen oder die Nachtschicht beendet haben. Bis zum Ende der blauen Stunde bleibt ihr Zeit, das frühe Licht und die Beleuchtung ausgewählter Orte einzufangen. Es ist frisch, ein zarter Wind streicht um die Ecken, schickt winzig kleine Wellen über den den Fluss. Die Ausflugsboote liegen am Kai und schlafen, vielleicht träumen sie davon, einmal auf einem richtigten Meer oder Ozean fahren zu dürfen.

Seelen

Du weißt, wir bleiben einsam: Du und ich, Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht, Mit freien Kronen, die der Seewind küßt … So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei. Doch zwischen beiden webt ein feines Licht Und Silberduft, der in den Zweigen spielt, Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin … Paul Wertheimer

Und weil sie etwas Bewegung in diesen Morgen legen möchte, die Starre aufheben und die Lichter tanzen lassen möchte, probiert sie sich ein bisschen aus. Wischt hier und da die Lichter, wie ein Maler auf der Leinwand seinen Pinsel mit ihrer Kamera über die Brücken, Gebäude und das Wasser.

Auf dem Heimweg biegt sie noch in einen versteckten Platz umringt von den typischen Häusern in Paris ab. Hier tummeln sich demnächst wieder Besucher und Einheimische, die Tische und Stühle besetzen werden, die gerade noch gestapelt und aufgereiht wie eine stumme Armee auf den Einsatz warten. Ein Fahrrad liegt fast wie erschöpft von einer durchtanzten Nacht lässig an einem Baum und schläft seinen Rausch aus.

Pünktlich zum Sonnenaufgang gehen die Lichter der Stadt aus. Der neue Tag steht in den Startblöcken. Die Stimmung schaltet wie der Lichtschalter von Ruhe auf Hektik. Sie taucht ab in die Metro, versucht diese Stille noch ein bisschen im Kopf und Körper zu halten. Ein Café au Lait zum Croissant …

Die Prachtstraße Champs-Élysées gleicht gegen Nachmittag einem Ameisenhaufen. Zwischen Autos, Bussen, Fahrrädern, Rollern und vielen Menschen, ist kaum ein Durchkommen. Sie mag das ab und zu sehr gerne, im Gewusel zu verschwinden, unterzutauchen, Teil der Masse zu werden. Niemand nimmt Notiz von ihr und der Kamera. Ihr Augenmerk gilt in Paris auch den Beinen, die jeden Tag jede Person durch diese Stadt tragen. Viele Wege zurücklegen und dabei immer den Zeitgeist wiederspiegeln. Die Mode, ein Statement oder Gleichförmigkeit, den eigenen Stil, die Tages- oder Jahreszeit, meistens das Geschlecht und das Alter preisgeben, ohne die gesamte Person zu sehen.

Hektik herrscht hier wahrscheinlich immer. Sie sieht den Menschen zu, wie sie die Schaufenster der großen Markenläden bewundern oder eine Tüte mit Neuem nach Hause tragen. Eilig von einer Straßenseite auf die andere laufen und dabei ein Foto des berühmten Arc de Triomphe de l’Étoile aufnehmen, der sich Mitten auf dem riesigen Kreisverkehr in den Himmel erhebt. Zu Ehren Napoleon errichtet, heute Gedenkstätte und Aussichtsturm. Später wird sie die vielen Stufen der Wendeltreppen nach oben steigen. Gerade findet eine Parade statt, mit Fahnenträgern, Musikkapelle und Kranzniederlegungen. Die Straße wird für einige Minuten gesperrt. Sie nimmt für eine Weile Platz auf einer Bank, um den gigantischen Torbogen zu bestaunen, hinter dem sich langsam die Sonne verabschiedet.

Es herrscht eine aufgeregte Stimmung, die dennoch friedlich wirkt angesichts der Weitsicht, des warmen Lichts, dass sich zu allen Seiten wie eine warme Decke über Paris legt. Geräusche dringen fast nicht mehr nach oben, sie lässt sich mitnehmen von dieser Atmosphere, genießt den unendlich scheindenden Blick über die Stadt und findet irgendwann eine kleine Lücke zwischen den Menschentrauben, um direkt an der Brüstung zu stehen. Sternförmig laufen die Straßen direkt auf den Torbogen zu, die ehrwürdigen Gebäude sehen mit Beleuchtung noch schöner aus. Natürlich will sie den Eifelturm sehen, der weniger als zwei Kilometer entfernt in den Abendhimmel empor ragt.

Viele verschiedene Nationen sind heute Abend hier auf dem Dach dieses Denkmals vereint. Sie stehen eng beisammen, teilen gemeinsam einen vielleicht einmaligen Augenblick in ihrem Leben. Ihre Hoffnung, das dieser Moment Einigen von ihnen für lange in Erinnerung bleibt und nicht nur ein Foto auf dem Telefon bleibt, nimmt sie gerne mit hinab. Die Stadt der Liebe spielte heute einen Trumpf aus, der die Herzen und die Gedanken friedlicher werden lassen könnte.

Das Glück ist ein Traum in der Nacht Und eine Illusion am Tag Es ist eine Gedanke voll Hoffnung Und ein Wunsch des Herzens, Der nach Erfüllung verlangt. Doch wie oft tritt das Gegenteil der Erfüllung ein. Es ist ein Gesang, der an unser Ohr tönt, Ohne daß unser Herz ihn versteht.

Khalil el Khatib

Paris Passion – Tag 1

Die Frage, warum sie erst knapp vor ihrem 50. Geburtstag Paris mit dem ersten Besuch in ihrem Leben beehrte, kann sie sich selbst nicht beantworten. Vielleicht wollte sie das liebgewonnenen allgegenwährtige Bild von der Stadt der Liebe, der Romantik, der Kunst und des freien Lebens nicht verlieren. Nicht enttäuscht werden, wenn dieses Bild in ihrem Kopf nach zahlreichen Berichten, Filmen und Texten ein ganz anderes, zu realitstisches Bild des Hier und Jetzt werden würde. Dennoch schlug das Herz sofort höher, als die Idee geboren war, der Termin feststand und der TGV im so schön klingendenen Gare de l’Est einfuhr. Und als sie den typisch kleinen Balkon ihres Hotelzimmers im 5. Stock betrat, um den Blick hoch über de Rue Pierre Semard schweifen zu lassen, konnte sie sehen, dass die Realität des Hier und Jetzt ganz wunderbar war.

Paris fühlte sich an wie eine schon immer dagewesene tiefe Liebe. Es war wie ein Wiedersehen mit einer noch Unbekannten. Alles strahlte dort in ihr, diese dichte Atmosphäre aus Trubel, Schönheit, Licht und Wärme füllte sofort ihren Körper und ihre Seele aus. Jeder Blick fühlte sich an, als ob sie die Geschichte dahinter sofort in sich aufsaugen musste. Es errinnerte sie an ihren Lieblingsfilm, im dem dieser Zustand, die Hauptdarstellerin alles Erlebte, Sichtbare und Unsichtbare in hörbaren Gedanken für die Zuschauer beschreibt.

„Ein Mann sitzt mit gelb karriertem Basecap auf einem der fünf knallgelben Plastikstühle in der Metrostation, lässig hat er sein rechtes Bein übergeschlagen, in seiner Hand hält er ein Telefon, auf dem gerade die Nachricht eingeht, dass sein bester Freund vor einer Stunde seine Beziehung beendet hat. Leider kann er den erstaunten Gesichtsausdruck der über ihm auf der Plakatwand abgebildeten jungen Frau, die Webung für ein großes Kaufhaus macht, nicht annähernd so gut nachahmen, obwohl das im Angesicht dieser Nachricht angemessen wäre.“

Ein erster Ausflug in die unbekannte und doch irgenwie vertraute Stadt führt sie zum Place de l’Hôtel de Ville, dort steht das impossante Rathaus, erbaut im Stil der Neorenaissance. Am Nachmittag wird dieser Ort von Einheimischen und Touristen umsäumt. Eilig hasten einige am prachtvollen Gebäude vorbei, an dessen Fassade noch Spuren von den Olympischen Spielen im August zu sehen sind. Eine Schar Kinder ist verzaubert vom Seifenblasenkünstler, der immer wieder große oder kleine bunt schimmernde Illusionen in die Luft entlässt, deren Leben schon nach Sekunden zerplatzt.

„Ein Paar läuft Hand in Hand von links nach rechts, sie trägt einen weißen Rock zum roten Pullover. Es fehlt nur die blaue Mütze für die Farben der französichen Flagge. Ganz in schwarzem Leder gekleidet steht eine Frau mit ihrem Fahrrad geduldig an einer roten Ampel. Eine andere Frau trägt gelbe Schuhe mit schwarzen Streifen und macht ein Foto vom Rathaus. Schnellen Schrittes schlängelt sich eine Frau bekleidet mit einem weißen Tüllrock mit roten Tupfen zwischen den Menschen hindurch. Wahrscheinlich hat sie deshalb die Laufschuhe an. Sie alle begegnen sich für einige Sekunden an diesem Ort , bevor sie wieder in ihren Leben verschwinden. Vermutlich haben sie nicht einmal Notiz voneinander genommen, nur ihre Kamera hat diese Momente festgehalten.“

Yonathan strahlte sie an wie eine außerirdische Sonne, das Gelb seiner Jacke tat fast schon weh in ihren Augen und passte doch so wunderbar zum Plakat auf der Litfaßsäule hinter ihm. Und, er rauchte! Sie musste ihn ansprechen, weil es ein Thema für Paris war, Raucher vor die Kamera zu bringen. Er fand es außergewöhnlich, dass sie sich dafür interessierte. Sie wusste, dass die Kamera ihr schon oft die Kontaktaufnahme erleichtert hatte und dankte ihm mit dem Versprechen die Bilder nach ihrer Rückkehr zuzusenden .

Notre Dame – Unsere Liebe Frau – nur von außen zu Bestaunen. Der Brand wurde gelöscht, die Wunden zu heilen dauert länger. Kräne ragen um die Kathedrale in den Himmel, was ihrer Schönheit dennoch keinen Abbruch tut. Sie nimmt Platz auf der temporären Tribüne gegenüber dem Hauptportal und versinkt in die detailreichen Verzierungen, die Steinmetze und Bildhauer Jahrzehnte lang geformt haben.

„Die Taube hat sich aufgeplustert im Schlaf, vielleicht findet es sie gemütlicher so, nimmt keine Notiz von den vielen Menschen um sie herum. Geliebt, gehasst, verehrt, verachtet … das ist ihr gerade egal. Sie balanciert mit den roten Beinchen auf dem Geländer. Wenn es ganz still wäre, könnten alle ihr leises Schnarchen hören. Können Tauben schnarchen? Dem bärtigen Mann mit Brille und blauer Jacke scheinen die Taube und die Kirche nicht zu interessieren. Er steht direkt im Sichtfeld aller Zuschauer, gefangen im Nachrichten-Bilder-Strom, der unaufhörlich seine Aufmerksamkeit fordert.“

Der Weg führt entlang der Seine, dem ewigen Strom durch die Stadt. Sie sieht Boote voll mit Menschen. Brücken so weit das Auge reicht. Die Uferseiten bebaut mit herrlichen Gebäuden. Es ist ein Gewusel! Von allen Seiten Passanten, Hunde, Fahrräder, Autos, Geräusche, Musik, Düfte, Bilder, Geschichten. Pures Leben.

Sie mag diese Mischung aus Allem. Diese Vielfalt der Kulturen, die sich locker und leicht zu vermischen scheinen. Selbst auf den Fahrrädern sind die Menschen mit Stil unterwegs, jede Straße und Gasse wie ein kleiner Laufsteg. Keiner wird bewertet. Die kleine Combo auf der Insel Saule Pleureur de la Pointe unterhalb der Pont Neuf probt unter freiem Himmel. Die Musik ist weit entfernt noch zu hören, hat Kraft und Energie. Ein Moment, genau richtig, ihn jetzt in ihrem warmen Herz zu verankern.

„Im Oberdeck vom Bus scheint die Sonne etwas länger in die Gesichter der Passagiere. Der junge Mann mit Mütze und Kaputze über dem Kopf scheint schon zu frieren auf dem Weg zu seiner Verabredung. Einsam baumelt ein hellbrauner Schuh an einem Laternenpfahl, lost and never found. Lässig auf dem Geländer sitzend wartet der Junge mit seinem Rad unweit der Brücke. Der nächste Song in seinen Ohren wird Ne te regarde pas sein“

Der Blinde

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt, die nicht ist auf seiner dunklen Stelle, wie ein dunkler Sprung durch eine helle Tasse geht. Und wie auf einem Blatt ist auf ihm der Widerschein der Dinge aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein. Nur für sein Fühlen rührt sich, so als finge es die Welt in kleinen Wellen ein eine Stille, einen Widerstand -, und dann scheint er wartend wen zu wählen: hingegeben hebt er seine Hand, festlich fast, wie um sich zu vermählen.

Rainer Maria Rilke