INTRO
Ich trage Gedichte
Um den Theetisch saßen wir,
Oder tranken wir Kaffee oder Chokolade,
Ein Traum nur war es,
Und alles lebt nur wie Schatten noch,
Wie Bilder aus einer Laterne magika
In meiner Erinnerung.
Deutlich nur seh ich
Zur Rechten mir das kleine zierliche Mädchen,
Zwölfjährig, kaum älter.
Unendlich traurig
Sah es mit großen blauen Augen
In seinen Schoß,
Die einzige Betrübte in unserem heitern,
Scherzbelebten Kreis.
Was fehlt dir Alice?
Warum denn so still heute?
Ach, so klang es von rosigen Kinderlippen,
Ich bin so schwermütig heute –
Ich trage Gedichte.
Was? du trägst Gedichte, Alice?
Und endloses Gelächter umschwirrte dich,
Übermütig,
Wie ausgelassene Tagvögel
Die alte ernste, unzufriedene Eule umspotten.
Ich trage Gedichte…
Wachend hör‘ ich immer noch
Diese zaghafte, traurige Antwort,
Die mich so tief rührte,
Aus Kindermund so tief rührte.
Ich trage Gedichte…
Was wissen die anderen,
Leicht frohen Alltagsseelen,
Wie einem zu Mute ist,
Wie uns beiden zu Mute ist, Alice,
Wenn wir Gedichte tragen.
Wie weh, wie krank unsere Seele sein kann,
Wenn’s drin keimt,
Wenn’s drin zuckt,
Mit ersten leisen Regungen,
In Schmerzen empfangen,
Mit Schmerzen geboren,
Seele von unserer Seele,
Blut von unserem Blut.
Kleine schmerzdurchzuckte Dichterin,
Freue dich.
Dein Reich war der Traum.
Die Sonne des Morgens küsste dich auf,
Dich und deine Schmerzen,
Wie den Nachttau von den Blättern der Blumen,
Denen du in ernster Lieblichkeit glichst.
Ich aber lebe.
Gustav Falke
Mein Tag ist kein Traum,
Und wenn ich schwermütig bin
Und Gedichte trage,
Darf ich’s nicht einmal sagen am Theetisch.
Sie würden mich auslachen,
Wie sie dich auslachten,
Nur thut’s noch zehnmal weher,
Am hellen, wirklichen Tage ausgelacht zu werden,
Und unsere Schmerzen
Sind ihnen immer lächerlich.
Sie verstehen uns nicht.
Wie schön, sagen sie, dichten zu können,
Wenn wir es doch auch könnten.
Ist es sehr schwer mein Herr?
Sie nennt es Schicksal, glückliches Schicksal. Wieder nur 18 Monate. Zu kurz? Lange genug? Hauptsache überhaupt! Das Wunderland lockte mit Verheisungen, neuen Abenteuern, persönlichen Geschichten, fremden Kulturen, Sprungbrett in andere Länder. Das erwies sich nur zum Teil als realistisch. Vieles blieb Traum, Sehnsucht und am Ende Demut, es trotz aller Umstände ausgehalten zu haben. Oft der Verzweiflung nahe, was wird bleiben?
Erinnerungen an einzigartige Erlebnisse, Freundschaften, Wärme im ganzen Körper, aber auch dieses Gefühl von Enge, Angst, Eingesperrt zu sein für 18 lange Monate. Alice nimmt sie alle mit, diese Erlebnisse und trägt sie wie Gedichte im Herzen für immer.
Noch einmal besucht sie die Orte des Wunderlandes, dass sie sich genau so vorgestellt hatte und dann doch immer auf eine neue Art erleben durfte. Das Überraschungen parat hielt und Unerwartetes aus dem Mantel zauberte.
Gewächshäuser, in denen die Pflanzen der ganzen Welt sprießen, sogar Wasserfälle zu bestaunen sind, die doch eigentlich in die Täler und Schluchten der Gebirge fallen sollen. Nebelschwaden ziehen an den üppigen Gewächsen vorbei. Eingesperrter Regenwald, dem geht es wie Alice. Blumen aus Glas, schlafende Hasen aus Pergament, fauchende Drachen in Holz gebannt. Draußen lockt ein runder Himmelsstürmer in seinen Bann. Hin- und Hergerissen zwischen Ablenkungen aller Art.
Der Himmel voller Papiervögel mit den Wünschen der Kinder, Frauen, Männer und Alten darauf. Sie wüsste diesen „Einen Wunsch“ auf Anhieb nicht. Vielleicht, dass noch mehr sehend und staunend und begreifend durch die Welt schreiten sollten.
Des Nachts schleicht Alice um die Gassen des großen Tempels. Laternen säumen das Gebälk, ein Lichtertraum in dunklen Zeiten. Die meisten nehmen gar keine Notiz davon, Touristen kommen schon lange keine mehr, die Einheimischen sitzen mit einer Zigarette im Mund unter dem orangenen Licht und genießen den Feierabend nach Stunden der Arbeit. In den Gassen ist es ruhiger als üblich, Alice findet das schön für den Moment. Auch wenn sie sich manchmal den Trubel vergangener Tage vorstellt, als sich hier Massen durchwälzten, auf der Suche nach … ja nach was?
Das Authentische ist eher in diesen ruhigen Zeiten sichtbar. Menschen mit Sorgenfalten auf der Stirn, weil keine Kunden mehr die Souveniers in den Läden haben wollen. Die um Kundschaft bittenden Restaurantbesitzer, die ihre Räume immer wieder schließen müssen oder nur sehr wenige bedienen dürfen, weil die Menschen Angst haben, sich anzustecken und ohne Musik, Tanz und Freude das Essen nur zum Sattwerden dient und kein Erlebnis mehr ist.
Manch einer von den Verzweifelten schafft sich einen Vogel an, um wenigstens etwas Gesellschaft zu haben. Der arme Pieps ist wirklich zu bedauern, am liebsten würde ihm Alice die Fußfessel abschneiden und ihn davon fliegen lassen. Wer eine Bar betreibt hat Schwein gehabt. Trost suchen die Menschen leider gerne im Alkohol. Manchmal kann man es nicht anders ertragen, was sich die Herren in den oberen Reihen für die Menschen darunter ausdenken, um sie in Sicherheit zu glauben.
Das Mondfest verfliegt so schnell, wie die Frau im Mond mit ihrem Hasen, die der Legende nach dort lebt. Eine von vielen Legenden über das Mondfest berichtet von einem Helden namens Hou Yi, welcher die Erde rettete, in dem er neun von zehn am Himmel stehenden Sonnen niederschoss. Als Dank erhielt er von der Königin des Himmels ein Unsterblichkeits-Elixier. Doch Hou Yi wollte bei seiner Geliebten Chang’e bleiben und ließ sie über den Trank wachen, anstatt ihn selbst zu trinken. Eines Tages versuchte eine Schülerin von Hou Yi in Besitz des Elixiers zu gelangen. Keinen anderen Ausweg sehend, trank Chang’e die Flüssigkeit und schwebte darauf in den Himmel hinauf. Um ihren Mann aus der Ferne beobachten zu können, ließ sie sich auf dem Mond wieder und wird seither am Mondfestival durch Opfergaben um Glück gebeten.
Du mußt glauben, du mußt wagen,
Friedrich von Schiller
Denn die Götter leihn kein Pfand,
Nur ein Wunder kann dich tragen
In das schöne Wunderland.
Es war Alice ein Fest und eine Freude, die Superbäume zu bestaunen. Wie aus einem Science-Fiction-Film erheben sie sich über ihrem Kopf, leuchten und funkeln. Kinder sollten staunend die Köpfe in den Nacken legen und dem Schauspiel zusehen. Lachend zwischen diesen Baumbauten tanzen und singen. Und dennoch vermisst sie beim Anblick der Giganten, das Rauschen der Blätter, wenn sich die Baumkronen im Wind wiegen. Das Klopfen eines Spechts beim Bau seiner Höhle. Das Knacken der Äste, wenn sie durchs Unterholz schleicht. Den Duft des Waldes im Herbst. Den Schauer auf der Haut, wenn sich leichter Nebel darauf niedersetzt. Nichts kann reales Leben ersetzen.
Zwischen den Glitzerfassaden findet Alice gerne die alten Häuser mit den kleinen bunten Kacheln. Genießt beim Schlendern einen Hefebun gefüllt mit Bohnenpaste und bestaunt die bunten Farben der Fassaden. Im Seconhandladen schlüpft sie in Kleider aus den 60er Jahren. Oder doch lieber die goldene Sau? Amos der Straßentiger sitzt wie immer an seinem Aussichtspunkt und ist wohl ebenso jeden Tag auf Neue erstaunt, wieviele Klimaanlagen am Nachbarhaus installiert sind. Trotz Fell scheint ihm die manchmal unerträgliche Hitze nichts zu bedeuten, einfach nicht oder nur langsam bewegen ist eine Devise. Alice wird es ihm nachmachen.
An der Promenade speit der Merlion konstant seine Wasserfontäne zur Freude der Schaulustigen oder der Brautpaare ins Becken. Die in den Himmel hochgeschossenen Wolkenkratzer in seinem Rücken lassen ihn winzig erscheinen. Gegenüber trohnt über allen das Hotelschiff, wie ein gigantisches Ufo. Mit Palmen bepflanzt, die schwindelfrei sein müssen, hoch über der Stadt, ein kleines Stück näher an den Sternen.
Denn ist dem Menschen jedwede Freude in der Brust vernichtet, dann ist sein Leben nur ein eitler Schein, er schleicht nur als ein Toter durch das Leben. Ob ihm der Reichtum füllet Haus und Hof, ob eine Krone um das Haupt ihm strahlt, fehlt ihm der Frohsinn, dann ist alles dies nicht soviel wert als einer Flamme Schatten.
Sophokles
Die Mauern der altehrwürdigen Dame erwarteten Alice. Noch einmal wollte sie eine Reise in einen Teil der Geschichte dieser Stadt antreten, abtauchen für Minuten, Stunden, Tage. Voller Nostalgie, Glanz und Prunk. Frisch renoviert erstrahlt die alte Dame in einer umwerfenden Pracht und es fühlte sich ein wenig wie Heimkommen an, als Alice durch die langen Gänge schreitet, die Zimmertüren an ihr vorbei ziehen. Charlie Chaplin residierte hier also ebefalls, lange her. Freundliche Menschen begegneten ihr. Machten den Aufenthalt zu einem sehr speziellen Erlebnis. Das regnerische Wetter passte perfekt zur Kulisse der weißen Säulen und schwarzen Balken, dem gelungenen Interior aus Alt & Neu. Feinster Tee wärmte ihren Körper und sie fühlte sich sehr willkommen. Die Stunden verflogen, die uralte Uhr im Foyer zeigt die Zeit schon mehr als 140 Jahre an.
Früher konnte die alte Dame sogar das Meer sehen, direkt vor ihrer Haustüre lag der Strand, die Gäste mussten nur die Straße überqueren, um die Füße ins Wasser zu tippen. Heute ist das komplette Ensamble an Gebäuden und kleinen Gärten umringt von der Großstadt und ihren Hochhäusern. Den Gästen bietet der klassisch angelegte Pool eine erfrischende Abkühlung. Und natürlich musste auch Alice vom berühmten Singapur Sling versuchen, sich die Süße und Raffinesse dieses speziellen Drinks auf der Zunge zergehen lassen, der urspründlich als alkoholischer Fruchtsaft getarnt den Damen serviert wurde, die neben ihren Männern auch gerne ein bisschen Spaß haben wollten. In der legendären Longbar steht die einzige Mixmaschine, die extra für die gleichzeitge Herstellung mehrerer Slings konstruiert wurde. Man komme und staune, wenn der Barkeeper sie mit Muskelkraft in Gang setzt.
Zweifel
Ich sitz auf einem falschen Schiff.
Von allem, was wir tun und treiben,
und was wir in den Blättern schreiben,
stimmt etwas nicht: Wort und Begriff.
Der Boden schwankt. Wozu? Wofür?
Kunst. Nicht Kunst. Lauf durch viele Zimmer.
Nie ist das Ende da. Und immer
stößt du an eine neue Tür.
Es gibt ja keine Wiederkehr.
Ich mag mich sträuben und mich bäumen,
es klingt in allen meinen Träumen:
Nicht mehr.
Wie gut hat es die neue Schicht.
Sie glauben. Glauben unter Schmerzen.
Es klingt aus allen tapfern Herzen:
Noch nicht.
Ist es schon aus? Ich warte stumm.
Wer sind Die, die da unten singen?
Aus seiner Zeit kann Keiner springen.
Und wie beneid ich Die, die gar nicht ringen
Die habens gut.
Die sind schön dumm.
Ihr Liebstes bleiben dennoch die Ecken in der Stadt, die gerade nicht perfekt sind. Genau diese wird Alice am intensivsten vermissen. Das einfache Leben, den Alltag der Menschen in diesen Gegenden, die unterschiedlichen Stile in der Architektur, das komplette Gegenteil der Glitzerfassaden in der City. Hier ist nichts perfekt, der Zufall spielt seinen Charme in vollen Zügen aus. Hier kann Alice stundenlang dem Treiben zuschauen, kleine Schätze entdecken, an denen viele einfach vorbeilaufen. In authentischen kleinen Speiselokalen die Köstlichkeiten der unterschiedlichsten Küchen ausprobieren. Was wäre diese Stadt nur ohne diese Viertel?
Es wird Zeit für Alice „Ade“ zu sagen und das Wunderland zu verlassen. Hin- und Hergerissen zwischen Abschiedsschmerz und Vorfreude, Wehmut und Erwartungen. Es kommt immer wieder eine neue Herausforderung um die Ecken, und manchmal einfach zu früh, als eigentlich geplant. Das Leben schenkt einem Erfahrungen und Alice nimmt sie dankbar an, jede Einzelne. Freunde gefunden, Freundschaften geschlossen, die halten mögen und sich tragen auch über Kontinente hinweg. Freude erlebt, Trauer gespürt, Hoffnungen gehegt, Enttäuschungen ausgehalten, auch Gefühle brauchen Achterbahnfahrten, sonst spürt man es nicht, das Leben in all seinen Facetten.
Abschied
Ein Gedicht für alle Tage
ist nicht leicht zu schreiben.
Was sei denn so alltäglich,
um in Erinnerung zu bleiben?
Was kann man schreiben,
wenn man geht,
gegen die Vergessenheit,
die mit der Uhr sich weiterdreht?
Für alle Tage wünsch ich Glück,
Kraft und Zufriedenheit.
Und schaut dahin, wo alles vor Euch liegt.
Das Gestern ist so weit.
Das Morgen ist voll Abenteuer,
voll neuer Chancen für das Leben.
Doch diese Zukunftsperspektive,
würde es ohne Vergangenheit nicht geben.
Drum schreib ich auch dazu ein paar Zeilen,
für jeden Tag mit Euch ein Danke.
Es war so schön, so lehrreich, schwer,
daß ich noch manchmal etwas wanke.
War die Entscheidung wirklich gut?
Es gab wie immer der Wege zwei.
Und neue Wege sind noch nicht so ausgetreten,
das macht sie schwierig, doch uns selbst auch frei.
So gehen wir weiter unsrer Wege,
die sich heute trennend schneiden.
Doch wer weiß, ob sie nicht eines Tages,
sich wieder kreuzen und begleiten.
Katja Uhlich
Die letzten Wochen wird Alice nutzen, genießen, gestalten. Freunde treffen, Umarmungen und Geschenke verteilen; noch einige Brote in den Ofen schieben; den einen oder anderen Kaffee oder eine scharfe Laksa-Suppe schlürfen. Endlich die echten Filme in die analogen Kameras einlegen und belichten, hoffentlich einige Singapurer dazu bringen, ihre Maske für ein Foto abzulegen.
Dann wird Alice ihren Koffer packen, „ByE ByE Singapur“ flüstern und nach 521 Tagen oder 12.504 Stunden das Wunderland verlassen. Erinnerungen im Gepäck, Freude im Herzen, Aufregung in der Seele für einen weiteren Neubeginn.