Ruhe vor dem Sturm

Wahrscheinlich ist die Dame am Morgen schon im erfrischenden See geschwommen, bevor sie uns mit ihrem bezaubernden Lächeln einen guten Tag wünschte und uns die wenigen Münzen abkassierte, den dieses Bad als Eintritt verlangt. Vermutlich schwimmt sie hier schon ihr Leben lang und verdient sich jetzt in ihrem Ruhestand ein bisschen was dazu oder ist einfach nur froh, unter Menschen sein zu dürfen, die immer gut gelaunt und voller Erwartungen auf einen entspannten Sommertag am Wasser in dieses ehrwürdig anmutende Strandbad kommen.

Der See schimmert türkis unter der schon kräftig strahlenden Sonne. Verteilt über die Bucht kann man Segelboote erkennen und die Ersten sind schon auf dem Weg zur höhen Plattform, um sich von oben, wieder in die Tiefe zu stürzen.

Am Kios duftet es nach frischem Cappuccino und warmen Brezeln, Davide begrüßt seine Stammgäste persönlich und hat ein unbeschwertes Lächeln auf seinen Lippen. Er ist nur im Sommer hier, die Winter verbringt er ein Italien, um aus seinen dort angebauten Oliven feinstes Öl zu pressen.

Das Kernstück des Bades ist der hundertjährige denkmalgeschützte Holzbau mit seinen zum See blickenden Kabinen. In der oberen Etage gibt es eine lange Reihe am Umkleiden, in denen sich sicherlich ab und an ein Liebespaar versteckt, um Zärtlichkeiten auszutauchen. Die Dielen knarzen bei jedem Schritt, von der Liegewiese her hallen Geräusche der Besuchen herauf. Die Temperatur ist dort noch einen Tick höher. Das Licht scheint gedeckt in die meeresblau gestrichene Höhle. Keiner stört diese heimlich dem Alltag gestohlene Stunde.

Mein Kummer ist meine Ritterburg, welche wie ein Adlernest hoch oben auf des Berges Gipfel in den Wolken liegt.

Søren Kierkegaard

Feiern konnten sie schon immer, in den Tälern des Montafons. Daran ändert sich nichts im 21. Jahrhundert. Auch wenn sich die Herberge der Gäste direkt neben dem Festzelt befindet. Die örtliche Feuerwehr ruft nur einmal aller vier Jahre zu Musik, Tanz und Gesang bei reichlich Trank und Speiß. Entweder es wird mitgefeiert oder es gibt eine schlaflose Nacht unter dem warmen Dach des alten Holzbaus. Beides führt am nächsten Morgen zu schwerem Kopf, bei den Feiernden wohl ausgeprägter. Aber der Blick auf die Gipfel, über denen sich die weißen Wolkenberge auftürmen, entschädigt alles.

Herrscht Nebel am Berg ist die Vorstellungskraft gefragt. Man muss sich das Panorama denken, nicht hadern mit der Situation und das nahe Liegende entdecken, welches man vielleicht sonst außer Acht gelassen hätte, vor grandioser Kulisse. Das Glockengeläute verrät die Kühe, bevor sie wie Gespenster im Nebel hinter einem Stein erscheinen. Ihnen reicht das taufrische Gras und die Kühle am Hang, heiße Sommertage gibt es jetzt viel zu oft auf den Almen.

Wildblumen in allen Variationen säumen die schmalen Wege, der ergiebige Regen ist ein Segen für die Pflanzen und Insekten. Auch die Betreiber der kleinen Alpe freuen sich darüber und dekorieren ihre Tische und den Montafoner Sura Kees damit. Wer ihn nicht probiert verpasst eine der ältesten Käsetraditionen der Alpen. Bereits im 13. Jahrhundert wurde dieser Sauerkäse hier hergestellt. Angemacht mit Kernöl und Essig auf frisch gebackenem Brot – ein kleines Gedicht.

Seht nur! Selbst die namenlosen Berge

hat der Frühling heute

mit Nebelschleiern zärtlich bedacht.

Matsuo Bashõ

Schon am nächsten Tage steht dem geplanten Gipfelglück nichts im Weg. Die Sonne wärmt Mensch und Tier zügig auf, statt Regenjacken lieber eine Flasche Wasser mehr einpacken, ist immer eine gute Idee. Schneller als geahnt werden wir uns die Kühle des vergangenen Tages wieder zurück wünschen.

Ich habe wohl auch meine Zeit an die Großartigkeit unserer Epoche der Technik geglaubt, aber jetzt fühle ich nur noch das Eine: daß sie die Erde entzaubert, indem sie alles allen gemein macht.

Christian Morgenstern

Schon lange muss der Naturfreund in den Bergen damit leben, dass die Technik Einzug gehalten hat. Erst um den Bergbauern die Arbeit auf den Almen zu erleichtern. Aber parallel dazu auch, um die vielen Touristen schneller und ohne Anstrengung auf die Berge zu befördern, zu verköstigen, zu bespaßen und die Abfahrt auf allerlei Sportgeräten zu ermöglichen. Nur wenige wandern direkt vom Tal hinauf auf die Gipfel oder hinunter ins Tal. Selbst mit Kinderwagen und Rollator kann die Bergluft und die Aussicht genossen werden. Wer das Ursprüngliche sucht geht die lieber einsameren Wege, auf denen sich bis zum Ziel nur Wenige begegnen. Kleine Alpen bieten gekühlte Getränke und einfache Kost an, um neben der Almbewirtschaftung zusätzliche Einnahmen zu haben. Hier spielt selten Musik aus Boxen und wenn dann der Heimatsender. Der Sommer wird mit jeder Stunde für die Arbeit genutzt, Wochenenden gibt es augenscheinlich nur im Winter, für den das Holz jetzt schon gespalten wird. Vermutlich sind die Menschen dann aber an den Seilbahnen und Liften für die Skifahrenden beschäftigt, die besonders an den Wochenenden zahlreich kommen.

Es ist eine wahre Hitzeschlacht, die Sommer werden im Gebirge ebenso wärmer und das Wandern anstrengender. Jeden kleinen Schattenfleck nutzen wir für eine Pause, jedes kleine Rinnsal zur Abkühlung des Nackens oder dem ganzen Kopf. Freiluftduschen sind sehr willkommen. Nach mühevollen Stunden erreichen wir den Gipfel, der bereits von einigen anderen Wanderern belagert wird. Familien mit Kindern, Paare … Eine Gruppe junger Abenteurer klettert von Stein zu Stein auf der Suche nach dem besten Fotopunkt. Übermut, der fast tragisch endete, nachdem sich eine große Steinplatte gelöst hatte und abrutschte. Schreck und eine Platzwunde am Bein, der Schock steckte bestimmt länger im Körper. Andere stehen zum Küssen am Abgrund, das hätten wir vor 30 Jahren wohl selbst auch getan.

Den zweiten Gipfel lassen wir rechts liegen, bevor wir mit der futuristisch anmutenden Gondel ins Tal hinunter schweben. Die Scheiben sind eingefärbt und lassen die Außenwelt in einem gelb-orangen Licht erscheinen. Es wirkt als sei man auf einem fremden Planeten gelandet. Das Gefühl, dieser ganze Zirkus am Berg ist irre, verstärkt sich in einem. Natur vs. Mensch – ein ewiger Kampf – bis jetzt steht der Gewinner nicht fest. Und ich frage mich, wer von Beiden hat den zauberschönen Herz-See erschaffen?

Die höchste Richterin über alle Irrtümer der Vergangenheit und Gegenwart und die einzige Prophetin der notwendigen Zukunft ist die große Natur, in der wir ruhen wie die Erde in den sanften Armen der Atmosphäre.

Ralph Waldo Emerson

Teil dieses Irrsins zu sein ist eines der Gefühle, die ich am liebsten verdrängen möchte. Der Lünersee war bis 1925 ein alter Bergsee, der durch die errichtete Staumauer zum Stausee wurde, um Energie zu gewinnen. Die braucht es nicht nur für die Einheimischen und die Betriebe im Tal, auch die Seilbahnen im schönen Brandnertal wollen mit Strom versorgt werden, um Touristen im Sommer wie Winter auf die Höhen zu bringen. Ich schätze, 90 % der angereisten Ausflügler sind mit der Gondel in knapp 10 Minuten zum türkisblauen See nach oben geschwebt. Wir wählten die Wanderung über den „Bösen Tritt“, deren Name dem Weg nicht ganz gerecht wird. Ja es ist teilweise etwas steil und abschüssig, aber nach gut 1 Stunde war es geschafft. Sogar ein Bergläufer „sprintete“ wie eine freche Gams an uns vorbei uns schaffte es in knapp 30 Minuten hinauf.

Die Bilder täuschen Idylle vor, wo bei genauer Betrachung irgendwie doch keine ist. Im See darf nicht geschwommen werden, das Restaurant neben der Staumauer ist eher ein Massenabfertigungsbetrieb. Gut, man hätte zur Almhütte auf der gegenüberliegenden Seite laufen können, allerdings haben das alle vor, die hier mit der Seilbahn angekommen sind und noch etwas wandern möchten. Den Knien zuliebe schwebten wir bergab um auf einer anderen Almhütte unseren Hunger zu stillen. Im Kopf stelle ich mir vor, wie es mit dem Bergsee und ohne die Lastenbahn hier führer ausgesehen haben könnte …

„Der Lünersee gilt dem gemeinen Manne als ein geheimnisvolles, unergründlich tiefes Wasser. Als einmal einer ein Senkblei in denselben warf, so rief ihm aus der Tiefe eine Stimme entgegen: Ergründest Du mich, so verschlinge ich dich. In ihm hausen nach der Vorstellung des Volkes mancherlei Ungethüme, und viele Geister wurden von Kapuzinern und anderen frommen Priestern in den See verbannt. Es geht auch die Prophezeiung, er werde einmal ausbrechen, sein Wasser werde alsdann bei der Bludenzer Kirchenstiege bis zur siebten Kirchenstufe hinaufreichen und der ganze innere Walgau werde überschwemmt sein; bisher sei ein Ausbruch nur durch einen ungeheuren Felsblock gehemmt, der mit mächtigen eisernen Klammern an die unterirdische Öffnung angeschmiedet sei.“
Aus Franz Josef Vonbun: „Sagen Vorarlbergs“, 1889

Hast du die Illusion der Freiheit durchschaut, Hast du eine Illusion verloren Und die Freiheit gewonnen.

Andreas Tenzer

Die Sommerfrische in den Bergen findet sich in den Schluchten. Der Planet heizt sich unaufhörlich auf, er misst keine Temperaturen, wie seine Bewohner. Bei über 30 Grad auf Gipfel zu steigen muss man wollen und können. Familien mit Kindern, ältere Menschen und wir beiden Frauen suchten die Abkühlung ist der Schlucht, die vom fließenden Wasser Jahrmillionen durch die Felsen getrieben wurde. Das Wasser ist so kalt, dass es an eiskalte Saunatauchbecken erinnert. Es ist herrlich diese Kälte einfach für einige Minuten auszuhalten und das Kribbeln am ganzen Körper zu spüren. Die Bergrettung übt mit ihrer Hundestaffel die Bergung von Verletzten. Mensch und Tier sind heute hier im Tal der Bürs besser aufgehoben.

Kurz vor unserer Anreise ereignete sich ein Bergsturz, der einen Abschnitt der Silvretta Hochaplenstraße unter sich begrub. Die beliebte Verbindungsstraße zwischen dem Montafon und Paznauen wurde unpassierbar und wird es eine Weile bleiben. Tonnen an Geröll kamen den Berg in Sekunden herunter und rissen auch Bäume mit in die Tiefe. Kein Durchkommen mehr für Fahrzeuge aller Art. Für die Touristen auf beiden Seiten der Strecke bedeutet dass, einen großen Umweg in Kauf zu nehmen, wenn sie von Vorarlberg nach Tirol oder umgekehrt reisen wollen. Für die Einwohner des Montafon-Tals eine Katastrophe, besonders für die Tourismusbranche. Buchungen wurden storniert, Tagesgäste bleiben aus, die oft nur für einen Ausflug auf die Biehler Höhe kommen, welche jetzt unerreichbar ist. Für uns stand eine Absage nicht zur Diskussion, der Famienbetrieb des gebuchten Hotels kann am wenigsten für dieses „Unglück“. Es gibt genug Wanderwege und Ausweichmöglichkeiten auf dieser Seite.

Die Tour zum Wiegensee und zur Verbellaalpe klang vielversprechend. Mit der Tafamuntbahn ging es 500 Höhenmeter hinauf. Der nette Mensch, der heute die Bahn nach oben schweben ließ, wartet extra auf uns, damit wir noch mitfahren konnten. Man hat hier immer das Gefühl, sehr herzlich Willkommen zu sein.

Mit Sonne erreichten wir den ersten Aussichtspunkt, von dem aus wie den Felssturz (Murenabgang) am linken Berghang betrachten konnten. Die ersten Wolken zogen auf und verschafften etwas Abkühlung. Je näher wir dem im Hochmoor gelegenen kleinen See kamen, desto dunkler wurde es und erste Regentropfen kitzelten auf Gesicht und Armen. Die Stimmung wurde mystisch, die Schritte etwas schneller. Bis zur ersehnten Alpe zog es sich und der Regen nahm zu, Nebelschwaden schlichen sich wie Grüße aus der Unterwelt in die Hochebene und versperrten uns teilweise die Sicht.

Diese kleinen Baumwollpflanzen wirken wie aus dem Märchen entwachsen und erinnerten mich an die Hochebene in Norwegen, wo sie ebenfalls sehr zahlreich ihre weißen Köpfe in den Himmel streckten. Ob mal daraus auch Wolle spinnen könnte?

Eine warme Stube mit etwas Suppe oder einem Tee kam da genau richtig, aber sie war so winzig, dass alle Sitzplätze schon von anderen Wanderern belegt waren und sogar Stehen unmöglich war. Es blieb nur der Abstieg ins Tal, über die etwas bequemere aber längere Forststraße. Wir trafen die Wanderer wieder, die wir am Wiegensee erstaunt gefragt hatten, von wo aus sie gekommen sind, und sie uns das ebenfalls fragten. Der Kops Stausee war von der Tiroler Seite weiterhin per Fahrzeug erreichbar. So planten einige der Besucher die Wanderung ins Montafon von dort aus. Mit Sonne erreichten wir unseren Zielort Parternen und ließen uns den frisch gebackenen Kaiserschmarrn und die Jausenplatte schmecken.

schon wieder ein Tag – verschwunden einfach weg dabei hatte ich ihn heute Morgen erst gefunden am üblichen Fleck und jetzt ist er weg wo wandern sie hin wo sammeln sie sich Berge müssen das sein liegen sie einfach nur da oder unterhalten sie sich wie es so war schon wieder ein Tag einfach weg verschwunden

Anke Maggauer-Kirsche

Am letzten Morgen umrunde ich einen kleinen Teil des Dorfes. Die Kirche im Herz stehend, den kleinen Friedhof daneben. Zum Wasserfall führt ein Kreuzweg an den Stationen Jesus vorbei. In einer kleinen Grotte segnet die dort stehende Marienstatue vorbeikommende Pilger. Kerzen können gespendet werden. Das Wasser fällt ohne Unterlass aus dem Fels steil bergab, ein ewiger Strom. Ein Sinnbild für die stetig verinnende Lebenszeit. Dem Sommer wird bald der Herbst folgen. Die Menschen auf den Alpen werden ihr Vieh ins Tal treiben und die Türen bis zum nächsten Frühsommer abschließen. Ein ewiger Kreislauf … ein schöner Kreislauf. Was wäre das Leben ohne Kommen und Gehen? Nichts!

Kosmonautin – Zwischenstationen

Die Realität ist die härteste Droge.

– Unbekannt –

Ein seltsamer Geruch umweht ihre Nase beim Verlassen der Unterkunft, erdig, holzig, wie verbrannte Pflanzen. Fast in jeder Straße zieht sich dieser Duft durch die riesige Stadt. Die Menschen hier scheinen es zu mögen, diese Papierrollen abzubrennen und den Qualm einzuatmen. In den unzähligen Smoke Shops kann sich jeder seine Sorte kaufen, die ihn in einen entspannten Zustand versetzen soll. Merkwürdig findet sie das, Menschen mit ihren Hunden sieht sie dort sitzen und schon am frühen Morgen rauchend. Aber wahrscheinlich hat jeder seine Art von Drogen, die er täglich braucht: Kaffee, Süßes, Alkohol, Bücher, Liebe …

Im Gewusel der Menschen und Fahrzeuge bahnt sie sich den Weg, bleibt immer wieder stehen und versucht die Momente festzuhalten, von denen sie später erzählen kann. Vom Sonnenlicht, das früh am Morgen nur die Spitzen der höhen Gebäude zum Strahlen bringt, von den kleinen privaten Shows in den Subway Stationen, die die Herzen der Vorbeiziehenden oft nur für ein oder zwei Minuten erwärmen.

Von den Lichtern am Abend, die alles wie auf einem Rummelplatz erleuchten. Den kleinen zwei oder vierbeinigen Wesen, die all dieses Spektakel nur von ganz unten bestaunen können. Es ist wie eine Theaterkulisse, die an jeder Straßenkreuzung eine neue Vorstellung bietet. Sie nimmt sich die Zeit und saugt jeden Moment auf. Die Geräusche und Gerüche müsste sie konservieren können. Alle ihre Sinne sind in diesen Momenten weit geöffnet.

Jazz ist das Ergebnis der Energie, die in Amerika gespeichert ist.

George Gershwin

Eine Nacht mit Jazz und Freunden. Sehr zu empfehlen im dieser Stadt voller Möglichkeiten, sich der Kultur und Kunst hinzugeben. Der kommende Tag wirft sich mit allem was er zu bieten hat vor ihre Füße – Licht wie aus einem Disneyfilm, Wind wie Bergluft, Sonne für ein warmes Herz.

Noch einmal nimmt sie die Subway in Richtung Brooklyn, streift durch die Straßen dieses Stadtteils. Trifft auf interessante Menschen, die sie wahrscheinlich nie wiedersehen wird. Flüchtige Begegnungen, für Freundschaften braucht es auch in dieser Stadt mehr Zeit.

Den Raben verzeiht, die Tauben plagt die Kritik.

Juvenal (58 – 140)

Gegen die Kälte des Windes, der unerbitterlich hinter jeder Straßenecke lauert, hilft ein heißer Kaffee und zur Stärkung eine Quiche mit Gemüse. Den Namen des kleinen mit vielen Pflanzen dekorierten Cafés hat sie vergessen. Am Fenster kann sie die vorbeilaufenden Menschen beobachten, die oft allein unterwegs sind. Versunken in Gedanken oder eilend dem Feierabend im gemütlichen Zuhause entgegen schreiten. Einige haben sich Weihnachtsdeko auf ihren Köpfen drapiert und scheinen die nächtse Bar oder Weihnachtsparty anzusteuern. Auf dem Weg zur Metrostation schwillt der Verkehr wieder an. Sie hat noch Blicke für die kleinen Dinge der Straße.

In Downtown glitzern die unzähligen Lichter der baldigen Dunkelheit entgegen, jeden gibt es Abend diese Show, der niemand entkommt. Aus dem Augenwinkel wird sie auf Puppen in extrawaganten Kostümen aufmerksam. Als sie ihre Nase und Kamera an die Scheiben des Gebäudes drückt, wird sie von einer Frau ins Gebäude gewunken. Die Kreationen sind die Abschlußarbeiten der Designschüler des FIT (Museum at the Fashion Institut of Technology). Es gefällt ihr sehr, was dort gezeigt wird, Kretivität und Mut für Außergewöhnliches. Mode für einen anderen Stern. Sie sollte etwas davon für ihre Freunde Zuhause mitnehmen.

Wer weiß schon

Da also wohnen wir

Am Rand der Milchstraße

Galaktische Provinz

Ausgestoßen und

hingewürfelt

Wer weiß schon daß es uns gibt!

Manfred Poisel

Stadt, Land, Meer

Der Wind bläst, wo er will.

Aus Belgien

Belgien, du schönes, interessantes und jetzt nicht mehr unbekanntes Land. Eine zweite Reise, sieben Tage, 70 km Strand, das Meer und fassettenreiche Naturschauspiele … mehr brauchte es nicht, um auf neue Gedanken zu kommen, alte loszulassen, sich treiben zu lassen … den Wind, das Salz, die Frische zu spüren mit allen Fasern des Körpers.

Wo sprudeln dir frischer die Quellen des Lebens als auf Reisen, wenn im Bilderstrom der Welt du selig dahintreibst.

Carl Peter Fröhling

Gent, du Bunte, voller Gelassenheit und trotzdem quirlige Stadt. Außer Konkurrenz zu Brüssel und Antwerpen versprühst du einen Charme, dem es zu erliegen gilt. Beim Schlendern durch deine Gassen, entlang dem Kanal der Leie, über alte und neue Brücken, vorbei an zauberhaften Läden, wie aus einer vergangenen Zeit gefallen. Einer davon hatte sehr besondere Tapetenmuster ausgestellt. Wie lange hatte ich so etwas schon nicht mehr gesehen? Zwischen frischen Waffeln, Crepés, belgischen Frites, feinster Schokolade und Pattiserie fiel die Auswahl nicht schwer. Am besten alles probieren. Hier lässt es sich nicht nur gut leben, auch studieren … was der Stadt ein jugendliches Flair verleiht.

Zusammengedrängt sind die Stunden der Muße, wild sind Wunsch und Sehnsucht nach mehr, das Innere verhüllt und verborgen, das Leben kurz und leer.

Christoph Matthes

Die Küste bietet viel Platz – auch und gerade für Kunst. Die Beaufort 24 ist eine öffentliche Kunstausstellung, die jeder Besucher kostenlos besichtigen kann, mit dem Rad, zu Fuß oder der Straßenbahn (Line), die entlang der gesamten Küste verkehrt. In diesem Jahr sind 42 neue Kunstwerke verstreut in den Küstenorten dazugekommen. Alle drei Jahre wird die Ausstellung, die es seit 2003 gibt, erweitert. In Laufdistanz zu unserer Unterkunft stand das Betonmomument „All The Words In The World“, des argentinischen Künstlers Jorge Macchi, welches er in digitaler Zusammenarbeit mit Studenten des VTI Brügge realisierte.

Jan Fabre erschuf die goldene Riesenschildkröte, die schon seit 2003 in Nieuwpoort bestaunt werden kann. „Auf der Suche nach Utopia“ ist der goldene Mann umringt von Apartmenthäusern vermutlich ohne Erfolg auf dieser Reise.

Mich faszinieren die kleinen unscheinbaren „Kunstwerke“, die oft zufällig und unbewusst entstehen. Man muss sie nur finden.

Dunkerque, das Grauen der Kriegsschlachten an deiner Küste erschreckt noch immer. Doch die Malerei erhält ihre Rechte zurück. Die mit Sprühdosen und Schablonen verzierten Bunkeranlagen der Deutschen werden wohl noch viele Jahre von diesen schrecklichen Ereignissen zeugen können. Mit eigenen Augen wollte ich es sehen, mit meinen Händen berühren. Auch Bilder können die Gefühle der damals Beteiligten nicht beschreiben, aber sie helfen vielleicht, zu zeigen, dass Krieg nie eine Lösung ist und der Mensch seine Energie und die Ressourcen der Natur viel sinnvoller einsetzten sollte.

Es wird mir leicht, Dinge für richtig zu halten, die mir fremd sind. Deshalb, weil etwas für mich gilt, fordere ich doch nicht, daß sich jeder danach richte. Es leuchtet mir ein, daß es tausend verschiedene Arten der Lebensgestaltung gibt; im Gegensatz zur üblichen Ansicht scheint es mir näherliegend, daß wir Menschen alle verschieden sind, als daß wir alle gleich sind.

Michel de Montaigne

Lille, du französische Charmeurin! Unwiderstehlich verschlingst du einen mit Haut und Haaren. Selbst Regenwetter kann dir nichts anhaben, das strahlst du einfach mit deiner friedlich feinen Idylle weg. An jeder Ecke ein stilvolles Café mit Kreationen feinster Süßwaren. Museen, Theater, Kinos … ich möchte einfach ein ganzes Jahr hier bleiben, um einen intensiven Eindruck von dir zu bekommen. Deine viele kleinen Schätze finden, die sich hinter jeder Ecke verstecken. Die Sprache lernen, die Menschen kennenlernen, ihre Geschichten erfahren, ein Teil ihres Lebens werden. Ein perfektes Geschenk hast du mir mitgegeben, die gebrauchte neue Kamera wird mich immer an dich erinnern und daran eines Tages wiederzukommen.

Eine Seele ohne Gedanken muß, wie ein Gebäude ohne Einwohner, bald in Verfall geraten.

Edward Young

Und dann sind da diese kleinen feinen Irritationen zwischen den neu hergerichteten Fassaden, die auf den Ansturm der Sommerfrischler warten. Zeichen der Vergangenheit. Ich mag sie gerne und wünsche mir, dass sie nicht komplett dem Verfall preisgegeben sondern erhalten werden. Zu retten, was zu retten ist – ein hehres Ziel für die kommenden Geneartionen.

Meine Großzügigkeit ist so grenzenlos wie das Meer. Meine Liebe ist so tief: je mehr ich Dir gebe, desto mehr habe ich, denn beides ist unendlich.

William Shakespeare

Kosmonautin – Erkundungen

Die Nacht war so kurz wie der unerwartet ausgelassene Abend lang war. Intuition führt die kleine Gruppe in eine Pianobar, unweit des quirligen Times Square in einer ruhigen Straße. Im Souterrain eines dieser typischen Backsteinhäuser gelegen. Im Laufe der Nacht entpuppt sich dieser Ort als das seit langem beste Erlebnis.

Musik – erst ruhig, dann laut, wild und schräg. Der Entertainer gibt alles, spielt das Klavier im Stehen. Vollster Körpereinsatz. Und eine gesangsfeste Barcrew mischt während des Singens Cocktails für die ausgelassenen Gäste, unter denen ebefalls Gesangsfreude herrscht und sich das eine oder andere Talent outet. Es wird gelacht, gefeiert und geflirtet. Was für einen Spaß für alle, die es erleben durften. Wer den Ort findet wird ihn lieben.

Nach dem Fest ist vor dem Frühstück. Sie liebt so einiges hier, Bagels zum Beispiel. Auf dem Weg zur Brooklyn Bagel Factory ziert Weihnachtsdekoration so manchen Eingang der Häuser. Der erste Kaffee wird geschlürft, Hunde ausgeführt, zur Arbeitsstelle gehastet. Ihr fällt ein Deckenberg mitten auf dem Gehweg auf, der sich plötzlich bewegt. Wer musste die kalte Nacht darunter verbringen? Wärmestuben oder Kältebusse – gibt es so etwas hier?

Gesang des Lebens Gross ist das Leben und reich! Ewige Götter schenkten es uns, lächelnder Güte voll, uns den Sterblichen, Freudegeschaffenen. Aber arm ist des Menschen Herz! Schnell verzagt, vergisst es der reifenden Früchte. Immer wieder mit leeren Händen sitzt der Bettler an staubiger Strasse, drauf das Glück mit den tönenden Rädern leuchtend vorbeifuhr.

Otto Erich Hartleben

Hoch hinaus will sie heute, dem Welt(t)raum näher sein, sich einen Überblick verschaffen. Von unten entdeckt sie Menschen auf einem angeseilten Steg an einer Hausfassade arbeiten und ein bisschen wie Ameisen wirken. Sie kleben dort ein neues Plakat, auf dem am Ende stehen wird „There’s Magic in All of Us“.

„The Edge“ ist die höchste Aussichtsplattform der westlichen Hemisphere und scheint über den anderen Häusern der Stadt zu schweben. Unter ihr sieht es wie ein nicht endend wollendes Zugbrett aus. Dicht gedrängt ist jeder Quadratmeter bebaut, dazwischen schneiden Straßen tiefe Schluchten zwischen die Wolkenkratzer. Jetzt wie ein Vogel die Flügel ausbreiten und dahingleiten über die Dächer dieser Sehnsuchts-Metropole.

Die Kinder hier oben sind von Natur aus erstaunt, drängen an die übermannshohen Scheiben, um den besten Platz zu erhaschen. Oder sind zögerlich und trauen dieser erstaunlichen Höhe nicht, dem unfassbar weiten Blick oder erschrecken, als sie auf dem kleinen Stück Glas stehen, dass den direkten Blick nach unten freigibt. Wäre da ein kleines Loch, könnten sie einen Kaugummi auf die unter ihnen vorbeifahrenden Autos spucken.

Leider hat für die anderen Besuchern der teure Ticketpreis nur einen Wert – Selbstinszenierung! Für Freunde, sich selbst, für die „sozialen“ Medien wird posiert, gesprungen oder sich auf dem Boden gewälzt. Keinen Augenblick nehmen sie sich die Zeit, in die Ferne zu schweifen. Die Miniatur der Freiheitstatue zu suchen oder die Größe des Central Parks zu erkennen. Wohin sind wir gekommen? Sie konnte einfach nicht anders und musste das für die Nachwelt mit der Kamera festhalten.

der Platz eines Außenseiters ist nicht schlecht man hat einen viel bessern Überblick

Anke Maggauer-Kirsche

Sie verschwindet in den Untergrund der Stadt. Tiefer Fall sozusagen, vom Himmel in die Hölle. Es ist heiß, staubig und laut. Auch einige seltsame Gestalten sind anzutreffen, die meisten harmlos – fragen gar nicht erst nach Geld. Wer hat und will, kann hier den ganzen Tag Dollarscheine oder Quatermünzen verschenken. Aber sicher wird keiner damit gerettet, nur getröstet vielleicht. Brooklyn – Stadt in der Stadt – die Metro führt unter dem Fluss auf die andere Seite. Noch nie war sie hier.

Den Niederländern verdankt dieser Bezirk seinen Namen. 1634 als Breuckelen gegründet (nach der Stadt Breukelen bei Utrecht), wurde er 1898 nach New York eingemeindet. Ein bisschen eigenständig mögen er und seine Bewohner heute immer noch sein. Bunt und quirlig scheint es hier wohl zuzugehen, wenn es wärmer draußen ist und nicht alle wie heute in die warmen Häuser, Shops, Cafés oder Restaurants flüchten.

Alle strömen nach Dumbo, einem Stadtteil, mit ehemaligen Lagerhäusern und teilweise sogar noch Kopfsteinpflaster. Auch sie möchte einen Blick werfen auf die zum greifen nah wirkende imposante Manhattan Bridge, die sich zwischen den roten Häusern in stahlblau erhebt. 1901 begann der Bau und dauerte 8 Jahre, bis er die beiden Stadtteile Lower Manhattan und Downtown Brooklyn über den Eastriver miteinander verband. Vielleicht sollte sie einmal des nachts hier herkommen, wenn kein Trubel in den Gassen herrscht, und dann ganz alleine dem Rauschen des Verkehrs zuhören.

Kleine Seelen wollen Wolkenkratzer Wolken kratzen sehen.

Andreas Tenzer

Im Bluestone Lane Café muss sie sich aufwärmen und trifft sie zwei junge Mädchen. Sie sprechen ihre Sprache, ein schöner Zufall. Sie sind über die Brooklyn Bridge gelaufen und trauen sich nicht die Metro zu benutzen. Nur Mut gibt sie ihnen mit für den Heimweg. Sie selbst lässt sich von den Beiden den Zugang zur Brücke erklären und macht sich auf den Weg. So ganz allein diese Stadt zu erkunden hat irgendwie etwas. Den Gedanken kann sie ihren Lauf lassen, genau beobachten, verweilen und vom Weg abkommen. Aber ein bisschen Gesellschaft vermisst sie dann doch ab und zu.

Einmal war sie die Brücke von Manhattan aus abgeschritten und am Ende direkt wieder umgekehrt. Heute also der Weg mit dauerndem Blick auf die Skyline, die schon millionenfach abgelichtet wurde. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu jeder Jahreszeit und aus so vielen verschiedenen Perspektiven. Aber das stört sie nicht, denn jedes Individuum hat seinen eigenen Blick.

Es hat sich viel verändert, seit dem letzten Besuch. Damals gab es ein paar wenige Souvenierstände an beiden Enden der Brücke. Überschaubar. Jetzt ist die Brücke zu einer wahren Einkaufsmeile verkommen. Der Blick soll nicht über Fluss und Stadtsilhouette gehen, sondern auf die Auslagen der Händler mit allem was der Tourist als Andenken braucht.

Dazwischen bieten alle fünfzig Meter Stände die neuest Art der Selbstinszenierung an. Eine mit rotem Samt bespannte runde Platte, auf die sich gestellt werden kann. Das Smartphone wird an einer Stange befestigt, die Platte dreht die Person dann eine Minute und das perfekte Video wird sofort produziert, fertig zum Versenden an alle Daheimgebliebenen. Dazu läuft in Dauerschleife ein Ausschnitt aus dem berühmten Alicia Keys Song „Empire State of Mind“ – wohlgemerkt übrigens bei allen Anbietern auf der Brücke.

Für die Nostalgiker gibt es noch echte Polaroids im Angebot und daneben übervolle Mülleimer am Ende eines jeden Tages. Immer wieder fallen ihr kleine durchsichtige Minizelte auf, in denen ein Stuhl steht. Hier wärmen sich die Händler ab und zu auf, wenn der Wind die Temperaturen in den Keller sinken lässt. In einem sitzt ein kleiner Junge und schau ein Video auf dem Smartphone an. Es ist verständlich, dass hier jeder Geld verdienen muss, der in dieser Stadt leben will. Trotzdem kauft sie nichts und produziert kein Video auf der drehenden Platte.

Sensation ist das Bedürfnis der Menge – die Persönlichkeit sucht das Erlebnis.

Salomon Baer-Oberdorf

So schnell sind die Stunden verstrichen, sie wird das Gefühl nicht los, dass die Zeitdimension in dieser dauernd hektischen Stadt eine andere ist als auf ihrem Heimatplaneten. Die Rush Hour wurde wahrscheinlich hier erfunden. Ab spätem Nachmittag schlendern nur noch die Touristen, die Metro saugt viel mehr Menschen in den Untergrund, alle versuchen schnellstmöglich an ihr Ziel zu kommen. Vermutlich tauscht sich die Menge jeden Tag aufs Neue von West nach Ost und von Nord nach Süd aus.

Menschen sind wie Mücken – sie sammeln sich um das Licht. Leider verstehen sie oft nicht künstliches Licht von wahrem zu unterscheiden.

Irina Rauthmann