Passion Paris – Tag 4

Nur produktives Schaffen rettet vor dem modernen Elend. Es wird uns nötigen, über die Fragen, die nie alt werden, nachzudenken: über das Woher? Wie? Warum? Wohin? Es wird uns zwingen, uns mit dem Leben auseinanderzusetzen und nach seinem Sinn zu fragen. Das ist vergebene Liebesmüh, werden die Herren Gelehrten sagen, aber doch Liebesmüh! Euer Schaffen aber ist Insektenarbeit.

Jakob Bosshart

Die Liebe wohnt in Paris! Das spürt sie mit jedem Schritt in den Straße dieser Stadt, die sich ernsthaft Mühe gibt, diese Liebe nicht zu kitschig und klischeehaft werden zu lassen. Sie mag keine eingefahrenen Vorstellungen und macht sich gerne selbst ein Bild, ob stimmt, „was erzählt“ wird. Angesichts der prachtvollen Architektur, der zahlreichen Angebote für Kunst und Kultur, den geschmackvoll gekleideten Menschen und der köstlichen Küche inklusive dem Wein und natürlich dem berühmten Laissez-faire ihrer Bewohner, verliebt sie sich trotz aller Vorurteile sofort und heftig. Jede Ecke ist liebenswürdig und sie hätte große Lust, sofort auf der Stelle alle Viertel ausgiebig zu erkunden.

Den Louvre und Notre Dame, die Opéra Garnier sowie den Palais de Tokyo hebt sie sich für die nächste Reise auf. Eigentlich mag sie keine Einkaufstempel, aber die Galeries Lafayette Haussmann ist dennoch einen Besuch wert. Das historische Kaufhaus überspannt eine Jugendstilkuppel, auf vier Etage wird angeboten, was viele Herzen begehren. Ihres schlägt dort nicht für den Konsum, nur für die Farben und das Licht. Aus der Ferne beobachtet Sie die extra zum Fotografieren installierte Glasbrücke, an deren Zugang sich eine Menschentraube bildet.

Sonnenlicht und kühle Luft erwartet sie draußen, in den Straßen füllen sich heute nur langsam die Gehwege. Sie kann den Blick schweifen lassen, im Augenblick versinken, den Moment abpassen. Das Herz der Stadt schlägt immer im gleichen Rhythmus, egal ob friedliche Stille oder panische Hektik herrscht. Wer ihn spürt, kann sich treiben lassen und im Takt der Herzen mitschwingen.

Lass die Liebe vorangehen, wenn du von ihr erhört werden willst.

Wer liebt findet sich selbst.

Die Zeit vergeht ohne Mühe, weder Schritte zu zählen noch auf die Uhr zu schauen, kommt ihr in den Sinn. Die Pont Alexandre III wurde nach einem russischen Zaren benannt. Die Erbauer der Brücke und der sich darauf befindenden Statuen waren detailverliebt und lassen sie staunen. Immer wieder blitzt es golden von den Figuren gegen den blauen Himmel, an dem sich Wolken gegenseitig fangen wollen. Der breite Fluß trägt voll besetzte Ausflugsboote unter der Bogenbrücke hindurch. Nichts scheint diese Idylle zu stören, wie aus der Zeit gefallen stehen die Menschen und lassen die Schönheit und den Prunk auf sich wirken. Sie empfindet keine Scham sich ihnen anzuschließen, sucht die versteckten Momente, die das Gefühl in diesem Moment spiegeln.

Man suche die leuchtendsten Augenblicke seines Lebens und analysiere sie, und man wird finden, dass in der Regel die Liebe im Spiele war. Die Liebe setzt dem Leben das Gold auf.

Jakob Bosshart

Fast heimlich muss der beste Platz als Altar für Hochzeitsfotos herhalten. Wem kann man es verwehren, sich in der Stadt der Liebe zu vermählen? Die Welle der Liebe scheint hier unaufhaltsam durch die ganze Stadt zu rollen. „Warum nicht“ denkt sie und verlässt diesen Schauplatz der Liebe.

Immer dann, wenn man spürt, dass Routine sich einschleicht, sollte man etwas Neues machen.

Max Reinhardt

Ein bisschen übertrieben findet sie diese Inszenierungen einzelner schon. Das Ausfsehen erregen ist eine eigenartige Gewohnheit geworden. Sie findet Spaß daran, diese kleinen Schaupiele einzufangen. Die Einheimschen scheinen daran gewöhnt zu sein. Mit scheinbar stoischer Gelassenheit zieht einfach alles an ihnen vorbei. Man muss sie einfach schon für ihre Toleranz ins Herz schließen.

Der Eifelturm rückt immer näher, sie hat ihn fast einmal umrundet. Jetzt ist er zum Greifen nah und lockt sie in seinen Bann. Fein rausgeputzt nach den olympischen Feierlichkeiten strahlt er mit der warmen Nachmittagssonne um die Wette. Sie kann ihm nicht widerstehen und macht sich auf dem Weg zum Champ de Mars.

Mir ist auf der Straße ein sehr armer junger Mann begegnet, der verliebt war. Sein Hut war alt, sein Mantel abgetragen; Wasser rann durch seine Schuhe. Aber Sterne zogen durch seine Seele.

Victor Hugo

Eine gute Freundin sagte ihr einmal „Zeit ist Liebe.“ Es stimmt, Zeit und Liebe habe etwas gemeinsam – sie sind sehr kostbar.

Passion Paris – Tag 3

Er ist nichts als Tauben, Liebste, und die brüten ihm heißes Blut, und heißes Blut erzeugt heiße Gedanken, und heiße Gedanken erzeugen heiße Werke, und heiße Werke sind Liebe.

William Shakespeare

Der neue Tag wirft ihr ein zauberschönes Licht ins Fenster, dass sie festhalten und mitnehmen möchte. Sie kann sich sehr gut vorstellen, hier in dieser ruhigen Straße für immer aufzuwachen. Die Sprache zu lernen und Teil dieser unerschöpflich großen Vielfalt an Kultur, Kunst und Leben zu werden. Ausgeschlafen und gestärkt geht sie zu Fuß in Richtung des kleinen Canal Saint – Martin. Das quirlige Viertel, dass sie durchqueren wird, pusliert in jeder Straße wie die Adern im Körper. Die Sonne lockt alle nach Draußen, die heute etwas zu erledigen haben. In den Geschäften, Cafés und Brasserien werden Neuigkeiten zum Kaffee ausgetauscht, Ware über die Theken geschoben oder herzhaft diskutiert. Hier und da zieht der Geruch von Zigaretten an ihrer Nase vorbei und sie traut sich nach einem Foto zu fragen. Ein Graffitikünstler aus Peru erneuert das Werk eines Kollegen, das Farbe verloren hat und teilweise beschmiert wurde. Zwei Tage nimmt er sich dafür Zeit, das Ergebnis kann sie kurz vor der Abreise betrachten.

Der kleine Kanal wirkt wie eine Oase in diesem Viertel, das Wasser dämpft gefühlt die Geräusche und spiegelt die prachtvollen Hausfassaden auf der Oberfläche. Um auf die andere Seite zu gelangen, spannt sich die zarte Brücke Passerelle Arletty im Bogen über das Wasser, umrahmt von Bäumen, die Schatten spenden und jetzt schon langsam ihr Blätter abwerfen. Enten eilen herbei in Erwartung eines Frühstücks, das leider ausbleibt. In den kleinen Gassen ist es ruhiger, die Restaurants und Bars sind noch geschlossen, auch der Buchladenbesitzer scheint heute lieber im Straßencafé zu sitzen. Allein die Bäckerei ist gut besucht, wie eigentlich überall in der Stadt. Schon allein wegen diesen unzählig über sämtliche Arrondissements verteilten nach Kindheit duftenden Backstuben würde sie sofort ihren Koffer hier lassen.

In einer der ruhigen Straße liegt eine große Matratze mitten auf dem Gehweg, direkt neben dem Eingang zum Gesundheitzerntrum. Darauf ein Mann, wildes Haar, Bart, ohne Bekleidung unter seiner Decke, ein Comicbuch in der Hand. Sie spricht ihn an, ob ihm nicht kalt sei. Er zeigt auf seine Tüten mit alter Kleidung und schüttelt den Kopf. Überall in der Stadt sieht sie Obdachlose, die auf Matratzen leben. Andere schieben ihr Hab und Gut in alten Einkaufswägen oder Buggys durch die Straßen. Sie gibt ihm Geld für Essen, er bedankt sich und ein kleiner Schimmer huscht über seine Augen. Das Lied von Katja Werker „Rette, was zu retten ist“ geht ihr durch den Kopf – „Wer, wenn nicht du, kennt die Richtung? Wer wenn nicht du, hält das Lot? Wer, wenn nicht du, ist der Käpten auf deinem Boot? …“

Nahtlos geht der Vormittag in den Nachmittag über … die Sonne wärmt den Oktober wie einen Augusttag. Hoch oben auf dem Hügel des Montmartre thront die Basilika Sacré-Cœur, deren helle Türme alle blenden, die heute den Aufstieg nach oben wagen. Sie umrundet diesen Schauplatz vom Heiligsten Herzen, streift alle Himmelsrichtungen und kreuzt die ausgetretenen üblichen Pfade. Die Schönheit des Bauwerkes könnte ablenken, wenn sie nicht den Blick für die Nebenrollen hätte für die, deren Bedürfnisse befriedigt werden wollen; Liebe, Hunger, Sucht, Aufmerksamkeit. Das Schauspiel der Menschlichkeit darf nicht verpasst werden.

Alles öffentliche Leben ist wenig mehr als ein Schauspiel, das der Geist von vorgestern gibt, mit dem Anspruch, der Geist von heute zu sein.

Christian Morgenstern

Für die eigenen Gelüste stattet sie dem Café Chez Ginette einen Besuch ab, um danach den Tag auf der Bir-Hakeim Brücke zu beschließen. Diese bietet seit 1878 (Eröffnung der Weltausstellung) auf einer Länge von 360 Metern über die Seine einen für viele Schaulustige und Hochzeitspaare optimalen Blick auf den Eifenturm. Wie gerne würde sie sich für eine Stunden in diese Zeit zurück senden lassen. Nur um zu sehen, wie die Menschen damals mit diesem Bauwerk umgegangen sind. Die heutigen theatralisch in Szene gesetzten Fotoaufnahmen der Braut- und Liebespaare belächelt sie ein wenig.

Nicht entgehen lassen wollte sie sich die Lichter der Nacht rund um die Eisenbrücke. Der Sonnenuntergang läutet das Spektakel am Wahrzeichen von Paris ein. Er funkelt und glitzert als ob er den Weihnachtsbäumen Konkurrenz machen muss. Die Kälte des Abends zieht unter ihre Haut, Zeit diesem Tag das Ende zu gönnen.

Paris Passion – Tag 2

Die erste Nacht ist kurz, der Morgen noch nicht in der Stadt, Ruhe herrscht im Hotel, in der Metro und auf den Straßen. Nur Fotoverrückte sind jetzt unterwegs und einige wenige Menschen, die arbeiten müssen oder die Nachtschicht beendet haben. Bis zum Ende der blauen Stunde bleibt ihr Zeit, das frühe Licht und die Beleuchtung ausgewählter Orte einzufangen. Es ist frisch, ein zarter Wind streicht um die Ecken, schickt winzig kleine Wellen über den den Fluss. Die Ausflugsboote liegen am Kai und schlafen, vielleicht träumen sie davon, einmal auf einem richtigten Meer oder Ozean fahren zu dürfen.

Seelen

Du weißt, wir bleiben einsam: Du und ich, Wie Stämme, tief in Gold und Blau getaucht, Mit freien Kronen, die der Seewind küßt … So nah, doch ganz gesondert, ewig zwei. Doch zwischen beiden webt ein feines Licht Und Silberduft, der in den Zweigen spielt, Und dunkel rauscht die Sehnsucht her und hin … Paul Wertheimer

Und weil sie etwas Bewegung in diesen Morgen legen möchte, die Starre aufheben und die Lichter tanzen lassen möchte, probiert sie sich ein bisschen aus. Wischt hier und da die Lichter, wie ein Maler auf der Leinwand seinen Pinsel mit ihrer Kamera über die Brücken, Gebäude und das Wasser.

Auf dem Heimweg biegt sie noch in einen versteckten Platz umringt von den typischen Häusern in Paris ab. Hier tummeln sich demnächst wieder Besucher und Einheimische, die Tische und Stühle besetzen werden, die gerade noch gestapelt und aufgereiht wie eine stumme Armee auf den Einsatz warten. Ein Fahrrad liegt fast wie erschöpft von einer durchtanzten Nacht lässig an einem Baum und schläft seinen Rausch aus.

Pünktlich zum Sonnenaufgang gehen die Lichter der Stadt aus. Der neue Tag steht in den Startblöcken. Die Stimmung schaltet wie der Lichtschalter von Ruhe auf Hektik. Sie taucht ab in die Metro, versucht diese Stille noch ein bisschen im Kopf und Körper zu halten. Ein Café au Lait zum Croissant …

Die Prachtstraße Champs-Élysées gleicht gegen Nachmittag einem Ameisenhaufen. Zwischen Autos, Bussen, Fahrrädern, Rollern und vielen Menschen, ist kaum ein Durchkommen. Sie mag das ab und zu sehr gerne, im Gewusel zu verschwinden, unterzutauchen, Teil der Masse zu werden. Niemand nimmt Notiz von ihr und der Kamera. Ihr Augenmerk gilt in Paris auch den Beinen, die jeden Tag jede Person durch diese Stadt tragen. Viele Wege zurücklegen und dabei immer den Zeitgeist wiederspiegeln. Die Mode, ein Statement oder Gleichförmigkeit, den eigenen Stil, die Tages- oder Jahreszeit, meistens das Geschlecht und das Alter preisgeben, ohne die gesamte Person zu sehen.

Hektik herrscht hier wahrscheinlich immer. Sie sieht den Menschen zu, wie sie die Schaufenster der großen Markenläden bewundern oder eine Tüte mit Neuem nach Hause tragen. Eilig von einer Straßenseite auf die andere laufen und dabei ein Foto des berühmten Arc de Triomphe de l’Étoile aufnehmen, der sich Mitten auf dem riesigen Kreisverkehr in den Himmel erhebt. Zu Ehren Napoleon errichtet, heute Gedenkstätte und Aussichtsturm. Später wird sie die vielen Stufen der Wendeltreppen nach oben steigen. Gerade findet eine Parade statt, mit Fahnenträgern, Musikkapelle und Kranzniederlegungen. Die Straße wird für einige Minuten gesperrt. Sie nimmt für eine Weile Platz auf einer Bank, um den gigantischen Torbogen zu bestaunen, hinter dem sich langsam die Sonne verabschiedet.

Es herrscht eine aufgeregte Stimmung, die dennoch friedlich wirkt angesichts der Weitsicht, des warmen Lichts, dass sich zu allen Seiten wie eine warme Decke über Paris legt. Geräusche dringen fast nicht mehr nach oben, sie lässt sich mitnehmen von dieser Atmosphere, genießt den unendlich scheindenden Blick über die Stadt und findet irgendwann eine kleine Lücke zwischen den Menschentrauben, um direkt an der Brüstung zu stehen. Sternförmig laufen die Straßen direkt auf den Torbogen zu, die ehrwürdigen Gebäude sehen mit Beleuchtung noch schöner aus. Natürlich will sie den Eifelturm sehen, der weniger als zwei Kilometer entfernt in den Abendhimmel empor ragt.

Viele verschiedene Nationen sind heute Abend hier auf dem Dach dieses Denkmals vereint. Sie stehen eng beisammen, teilen gemeinsam einen vielleicht einmaligen Augenblick in ihrem Leben. Ihre Hoffnung, das dieser Moment Einigen von ihnen für lange in Erinnerung bleibt und nicht nur ein Foto auf dem Telefon bleibt, nimmt sie gerne mit hinab. Die Stadt der Liebe spielte heute einen Trumpf aus, der die Herzen und die Gedanken friedlicher werden lassen könnte.

Das Glück ist ein Traum in der Nacht Und eine Illusion am Tag Es ist eine Gedanke voll Hoffnung Und ein Wunsch des Herzens, Der nach Erfüllung verlangt. Doch wie oft tritt das Gegenteil der Erfüllung ein. Es ist ein Gesang, der an unser Ohr tönt, Ohne daß unser Herz ihn versteht.

Khalil el Khatib

Ruhe vor dem Sturm

Wahrscheinlich ist die Dame am Morgen schon im erfrischenden See geschwommen, bevor sie uns mit ihrem bezaubernden Lächeln einen guten Tag wünschte und uns die wenigen Münzen abkassierte, den dieses Bad als Eintritt verlangt. Vermutlich schwimmt sie hier schon ihr Leben lang und verdient sich jetzt in ihrem Ruhestand ein bisschen was dazu oder ist einfach nur froh, unter Menschen sein zu dürfen, die immer gut gelaunt und voller Erwartungen auf einen entspannten Sommertag am Wasser in dieses ehrwürdig anmutende Strandbad kommen.

Der See schimmert türkis unter der schon kräftig strahlenden Sonne. Verteilt über die Bucht kann man Segelboote erkennen und die Ersten sind schon auf dem Weg zur höhen Plattform, um sich von oben, wieder in die Tiefe zu stürzen.

Am Kios duftet es nach frischem Cappuccino und warmen Brezeln, Davide begrüßt seine Stammgäste persönlich und hat ein unbeschwertes Lächeln auf seinen Lippen. Er ist nur im Sommer hier, die Winter verbringt er ein Italien, um aus seinen dort angebauten Oliven feinstes Öl zu pressen.

Das Kernstück des Bades ist der hundertjährige denkmalgeschützte Holzbau mit seinen zum See blickenden Kabinen. In der oberen Etage gibt es eine lange Reihe am Umkleiden, in denen sich sicherlich ab und an ein Liebespaar versteckt, um Zärtlichkeiten auszutauchen. Die Dielen knarzen bei jedem Schritt, von der Liegewiese her hallen Geräusche der Besuchen herauf. Die Temperatur ist dort noch einen Tick höher. Das Licht scheint gedeckt in die meeresblau gestrichene Höhle. Keiner stört diese heimlich dem Alltag gestohlene Stunde.

Mein Kummer ist meine Ritterburg, welche wie ein Adlernest hoch oben auf des Berges Gipfel in den Wolken liegt.

Søren Kierkegaard

Feiern konnten sie schon immer, in den Tälern des Montafons. Daran ändert sich nichts im 21. Jahrhundert. Auch wenn sich die Herberge der Gäste direkt neben dem Festzelt befindet. Die örtliche Feuerwehr ruft nur einmal aller vier Jahre zu Musik, Tanz und Gesang bei reichlich Trank und Speiß. Entweder es wird mitgefeiert oder es gibt eine schlaflose Nacht unter dem warmen Dach des alten Holzbaus. Beides führt am nächsten Morgen zu schwerem Kopf, bei den Feiernden wohl ausgeprägter. Aber der Blick auf die Gipfel, über denen sich die weißen Wolkenberge auftürmen, entschädigt alles.

Herrscht Nebel am Berg ist die Vorstellungskraft gefragt. Man muss sich das Panorama denken, nicht hadern mit der Situation und das nahe Liegende entdecken, welches man vielleicht sonst außer Acht gelassen hätte, vor grandioser Kulisse. Das Glockengeläute verrät die Kühe, bevor sie wie Gespenster im Nebel hinter einem Stein erscheinen. Ihnen reicht das taufrische Gras und die Kühle am Hang, heiße Sommertage gibt es jetzt viel zu oft auf den Almen.

Wildblumen in allen Variationen säumen die schmalen Wege, der ergiebige Regen ist ein Segen für die Pflanzen und Insekten. Auch die Betreiber der kleinen Alpe freuen sich darüber und dekorieren ihre Tische und den Montafoner Sura Kees damit. Wer ihn nicht probiert verpasst eine der ältesten Käsetraditionen der Alpen. Bereits im 13. Jahrhundert wurde dieser Sauerkäse hier hergestellt. Angemacht mit Kernöl und Essig auf frisch gebackenem Brot – ein kleines Gedicht.

Seht nur! Selbst die namenlosen Berge

hat der Frühling heute

mit Nebelschleiern zärtlich bedacht.

Matsuo Bashõ

Schon am nächsten Tage steht dem geplanten Gipfelglück nichts im Weg. Die Sonne wärmt Mensch und Tier zügig auf, statt Regenjacken lieber eine Flasche Wasser mehr einpacken, ist immer eine gute Idee. Schneller als geahnt werden wir uns die Kühle des vergangenen Tages wieder zurück wünschen.

Ich habe wohl auch meine Zeit an die Großartigkeit unserer Epoche der Technik geglaubt, aber jetzt fühle ich nur noch das Eine: daß sie die Erde entzaubert, indem sie alles allen gemein macht.

Christian Morgenstern

Schon lange muss der Naturfreund in den Bergen damit leben, dass die Technik Einzug gehalten hat. Erst um den Bergbauern die Arbeit auf den Almen zu erleichtern. Aber parallel dazu auch, um die vielen Touristen schneller und ohne Anstrengung auf die Berge zu befördern, zu verköstigen, zu bespaßen und die Abfahrt auf allerlei Sportgeräten zu ermöglichen. Nur wenige wandern direkt vom Tal hinauf auf die Gipfel oder hinunter ins Tal. Selbst mit Kinderwagen und Rollator kann die Bergluft und die Aussicht genossen werden. Wer das Ursprüngliche sucht geht die lieber einsameren Wege, auf denen sich bis zum Ziel nur Wenige begegnen. Kleine Alpen bieten gekühlte Getränke und einfache Kost an, um neben der Almbewirtschaftung zusätzliche Einnahmen zu haben. Hier spielt selten Musik aus Boxen und wenn dann der Heimatsender. Der Sommer wird mit jeder Stunde für die Arbeit genutzt, Wochenenden gibt es augenscheinlich nur im Winter, für den das Holz jetzt schon gespalten wird. Vermutlich sind die Menschen dann aber an den Seilbahnen und Liften für die Skifahrenden beschäftigt, die besonders an den Wochenenden zahlreich kommen.

Es ist eine wahre Hitzeschlacht, die Sommer werden im Gebirge ebenso wärmer und das Wandern anstrengender. Jeden kleinen Schattenfleck nutzen wir für eine Pause, jedes kleine Rinnsal zur Abkühlung des Nackens oder dem ganzen Kopf. Freiluftduschen sind sehr willkommen. Nach mühevollen Stunden erreichen wir den Gipfel, der bereits von einigen anderen Wanderern belagert wird. Familien mit Kindern, Paare … Eine Gruppe junger Abenteurer klettert von Stein zu Stein auf der Suche nach dem besten Fotopunkt. Übermut, der fast tragisch endete, nachdem sich eine große Steinplatte gelöst hatte und abrutschte. Schreck und eine Platzwunde am Bein, der Schock steckte bestimmt länger im Körper. Andere stehen zum Küssen am Abgrund, das hätten wir vor 30 Jahren wohl selbst auch getan.

Den zweiten Gipfel lassen wir rechts liegen, bevor wir mit der futuristisch anmutenden Gondel ins Tal hinunter schweben. Die Scheiben sind eingefärbt und lassen die Außenwelt in einem gelb-orangen Licht erscheinen. Es wirkt als sei man auf einem fremden Planeten gelandet. Das Gefühl, dieser ganze Zirkus am Berg ist irre, verstärkt sich in einem. Natur vs. Mensch – ein ewiger Kampf – bis jetzt steht der Gewinner nicht fest. Und ich frage mich, wer von Beiden hat den zauberschönen Herz-See erschaffen?

Die höchste Richterin über alle Irrtümer der Vergangenheit und Gegenwart und die einzige Prophetin der notwendigen Zukunft ist die große Natur, in der wir ruhen wie die Erde in den sanften Armen der Atmosphäre.

Ralph Waldo Emerson

Teil dieses Irrsins zu sein ist eines der Gefühle, die ich am liebsten verdrängen möchte. Der Lünersee war bis 1925 ein alter Bergsee, der durch die errichtete Staumauer zum Stausee wurde, um Energie zu gewinnen. Die braucht es nicht nur für die Einheimischen und die Betriebe im Tal, auch die Seilbahnen im schönen Brandnertal wollen mit Strom versorgt werden, um Touristen im Sommer wie Winter auf die Höhen zu bringen. Ich schätze, 90 % der angereisten Ausflügler sind mit der Gondel in knapp 10 Minuten zum türkisblauen See nach oben geschwebt. Wir wählten die Wanderung über den „Bösen Tritt“, deren Name dem Weg nicht ganz gerecht wird. Ja es ist teilweise etwas steil und abschüssig, aber nach gut 1 Stunde war es geschafft. Sogar ein Bergläufer „sprintete“ wie eine freche Gams an uns vorbei uns schaffte es in knapp 30 Minuten hinauf.

Die Bilder täuschen Idylle vor, wo bei genauer Betrachung irgendwie doch keine ist. Im See darf nicht geschwommen werden, das Restaurant neben der Staumauer ist eher ein Massenabfertigungsbetrieb. Gut, man hätte zur Almhütte auf der gegenüberliegenden Seite laufen können, allerdings haben das alle vor, die hier mit der Seilbahn angekommen sind und noch etwas wandern möchten. Den Knien zuliebe schwebten wir bergab um auf einer anderen Almhütte unseren Hunger zu stillen. Im Kopf stelle ich mir vor, wie es mit dem Bergsee und ohne die Lastenbahn hier führer ausgesehen haben könnte …

„Der Lünersee gilt dem gemeinen Manne als ein geheimnisvolles, unergründlich tiefes Wasser. Als einmal einer ein Senkblei in denselben warf, so rief ihm aus der Tiefe eine Stimme entgegen: Ergründest Du mich, so verschlinge ich dich. In ihm hausen nach der Vorstellung des Volkes mancherlei Ungethüme, und viele Geister wurden von Kapuzinern und anderen frommen Priestern in den See verbannt. Es geht auch die Prophezeiung, er werde einmal ausbrechen, sein Wasser werde alsdann bei der Bludenzer Kirchenstiege bis zur siebten Kirchenstufe hinaufreichen und der ganze innere Walgau werde überschwemmt sein; bisher sei ein Ausbruch nur durch einen ungeheuren Felsblock gehemmt, der mit mächtigen eisernen Klammern an die unterirdische Öffnung angeschmiedet sei.“
Aus Franz Josef Vonbun: „Sagen Vorarlbergs“, 1889

Hast du die Illusion der Freiheit durchschaut, Hast du eine Illusion verloren Und die Freiheit gewonnen.

Andreas Tenzer

Die Sommerfrische in den Bergen findet sich in den Schluchten. Der Planet heizt sich unaufhörlich auf, er misst keine Temperaturen, wie seine Bewohner. Bei über 30 Grad auf Gipfel zu steigen muss man wollen und können. Familien mit Kindern, ältere Menschen und wir beiden Frauen suchten die Abkühlung ist der Schlucht, die vom fließenden Wasser Jahrmillionen durch die Felsen getrieben wurde. Das Wasser ist so kalt, dass es an eiskalte Saunatauchbecken erinnert. Es ist herrlich diese Kälte einfach für einige Minuten auszuhalten und das Kribbeln am ganzen Körper zu spüren. Die Bergrettung übt mit ihrer Hundestaffel die Bergung von Verletzten. Mensch und Tier sind heute hier im Tal der Bürs besser aufgehoben.

Kurz vor unserer Anreise ereignete sich ein Bergsturz, der einen Abschnitt der Silvretta Hochaplenstraße unter sich begrub. Die beliebte Verbindungsstraße zwischen dem Montafon und Paznauen wurde unpassierbar und wird es eine Weile bleiben. Tonnen an Geröll kamen den Berg in Sekunden herunter und rissen auch Bäume mit in die Tiefe. Kein Durchkommen mehr für Fahrzeuge aller Art. Für die Touristen auf beiden Seiten der Strecke bedeutet dass, einen großen Umweg in Kauf zu nehmen, wenn sie von Vorarlberg nach Tirol oder umgekehrt reisen wollen. Für die Einwohner des Montafon-Tals eine Katastrophe, besonders für die Tourismusbranche. Buchungen wurden storniert, Tagesgäste bleiben aus, die oft nur für einen Ausflug auf die Biehler Höhe kommen, welche jetzt unerreichbar ist. Für uns stand eine Absage nicht zur Diskussion, der Famienbetrieb des gebuchten Hotels kann am wenigsten für dieses „Unglück“. Es gibt genug Wanderwege und Ausweichmöglichkeiten auf dieser Seite.

Die Tour zum Wiegensee und zur Verbellaalpe klang vielversprechend. Mit der Tafamuntbahn ging es 500 Höhenmeter hinauf. Der nette Mensch, der heute die Bahn nach oben schweben ließ, wartet extra auf uns, damit wir noch mitfahren konnten. Man hat hier immer das Gefühl, sehr herzlich Willkommen zu sein.

Mit Sonne erreichten wir den ersten Aussichtspunkt, von dem aus wie den Felssturz (Murenabgang) am linken Berghang betrachten konnten. Die ersten Wolken zogen auf und verschafften etwas Abkühlung. Je näher wir dem im Hochmoor gelegenen kleinen See kamen, desto dunkler wurde es und erste Regentropfen kitzelten auf Gesicht und Armen. Die Stimmung wurde mystisch, die Schritte etwas schneller. Bis zur ersehnten Alpe zog es sich und der Regen nahm zu, Nebelschwaden schlichen sich wie Grüße aus der Unterwelt in die Hochebene und versperrten uns teilweise die Sicht.

Diese kleinen Baumwollpflanzen wirken wie aus dem Märchen entwachsen und erinnerten mich an die Hochebene in Norwegen, wo sie ebenfalls sehr zahlreich ihre weißen Köpfe in den Himmel streckten. Ob mal daraus auch Wolle spinnen könnte?

Eine warme Stube mit etwas Suppe oder einem Tee kam da genau richtig, aber sie war so winzig, dass alle Sitzplätze schon von anderen Wanderern belegt waren und sogar Stehen unmöglich war. Es blieb nur der Abstieg ins Tal, über die etwas bequemere aber längere Forststraße. Wir trafen die Wanderer wieder, die wir am Wiegensee erstaunt gefragt hatten, von wo aus sie gekommen sind, und sie uns das ebenfalls fragten. Der Kops Stausee war von der Tiroler Seite weiterhin per Fahrzeug erreichbar. So planten einige der Besucher die Wanderung ins Montafon von dort aus. Mit Sonne erreichten wir unseren Zielort Parternen und ließen uns den frisch gebackenen Kaiserschmarrn und die Jausenplatte schmecken.

schon wieder ein Tag – verschwunden einfach weg dabei hatte ich ihn heute Morgen erst gefunden am üblichen Fleck und jetzt ist er weg wo wandern sie hin wo sammeln sie sich Berge müssen das sein liegen sie einfach nur da oder unterhalten sie sich wie es so war schon wieder ein Tag einfach weg verschwunden

Anke Maggauer-Kirsche

Am letzten Morgen umrunde ich einen kleinen Teil des Dorfes. Die Kirche im Herz stehend, den kleinen Friedhof daneben. Zum Wasserfall führt ein Kreuzweg an den Stationen Jesus vorbei. In einer kleinen Grotte segnet die dort stehende Marienstatue vorbeikommende Pilger. Kerzen können gespendet werden. Das Wasser fällt ohne Unterlass aus dem Fels steil bergab, ein ewiger Strom. Ein Sinnbild für die stetig verinnende Lebenszeit. Dem Sommer wird bald der Herbst folgen. Die Menschen auf den Alpen werden ihr Vieh ins Tal treiben und die Türen bis zum nächsten Frühsommer abschließen. Ein ewiger Kreislauf … ein schöner Kreislauf. Was wäre das Leben ohne Kommen und Gehen? Nichts!