Paris Passion – Tag 1

Die Frage, warum sie erst knapp vor ihrem 50. Geburtstag Paris mit dem ersten Besuch in ihrem Leben beehrte, kann sie sich selbst nicht beantworten. Vielleicht wollte sie das liebgewonnenen allgegenwährtige Bild von der Stadt der Liebe, der Romantik, der Kunst und des freien Lebens nicht verlieren. Nicht enttäuscht werden, wenn dieses Bild in ihrem Kopf nach zahlreichen Berichten, Filmen und Texten ein ganz anderes, zu realitstisches Bild des Hier und Jetzt werden würde. Dennoch schlug das Herz sofort höher, als die Idee geboren war, der Termin feststand und der TGV im so schön klingendenen Gare de l’Est einfuhr. Und als sie den typisch kleinen Balkon ihres Hotelzimmers im 5. Stock betrat, um den Blick hoch über de Rue Pierre Semard schweifen zu lassen, konnte sie sehen, dass die Realität des Hier und Jetzt ganz wunderbar war.

Paris fühlte sich an wie eine schon immer dagewesene tiefe Liebe. Es war wie ein Wiedersehen mit einer noch Unbekannten. Alles strahlte dort in ihr, diese dichte Atmosphäre aus Trubel, Schönheit, Licht und Wärme füllte sofort ihren Körper und ihre Seele aus. Jeder Blick fühlte sich an, als ob sie die Geschichte dahinter sofort in sich aufsaugen musste. Es errinnerte sie an ihren Lieblingsfilm, im dem dieser Zustand, die Hauptdarstellerin alles Erlebte, Sichtbare und Unsichtbare in hörbaren Gedanken für die Zuschauer beschreibt.

„Ein Mann sitzt mit gelb karriertem Basecap auf einem der fünf knallgelben Plastikstühle in der Metrostation, lässig hat er sein rechtes Bein übergeschlagen, in seiner Hand hält er ein Telefon, auf dem gerade die Nachricht eingeht, dass sein bester Freund vor einer Stunde seine Beziehung beendet hat. Leider kann er den erstaunten Gesichtsausdruck der über ihm auf der Plakatwand abgebildeten jungen Frau, die Webung für ein großes Kaufhaus macht, nicht annähernd so gut nachahmen, obwohl das im Angesicht dieser Nachricht angemessen wäre.“

Ein erster Ausflug in die unbekannte und doch irgenwie vertraute Stadt führt sie zum Place de l’Hôtel de Ville, dort steht das impossante Rathaus, erbaut im Stil der Neorenaissance. Am Nachmittag wird dieser Ort von Einheimischen und Touristen umsäumt. Eilig hasten einige am prachtvollen Gebäude vorbei, an dessen Fassade noch Spuren von den Olympischen Spielen im August zu sehen sind. Eine Schar Kinder ist verzaubert vom Seifenblasenkünstler, der immer wieder große oder kleine bunt schimmernde Illusionen in die Luft entlässt, deren Leben schon nach Sekunden zerplatzt.

„Ein Paar läuft Hand in Hand von links nach rechts, sie trägt einen weißen Rock zum roten Pullover. Es fehlt nur die blaue Mütze für die Farben der französichen Flagge. Ganz in schwarzem Leder gekleidet steht eine Frau mit ihrem Fahrrad geduldig an einer roten Ampel. Eine andere Frau trägt gelbe Schuhe mit schwarzen Streifen und macht ein Foto vom Rathaus. Schnellen Schrittes schlängelt sich eine Frau bekleidet mit einem weißen Tüllrock mit roten Tupfen zwischen den Menschen hindurch. Wahrscheinlich hat sie deshalb die Laufschuhe an. Sie alle begegnen sich für einige Sekunden an diesem Ort , bevor sie wieder in ihren Leben verschwinden. Vermutlich haben sie nicht einmal Notiz voneinander genommen, nur ihre Kamera hat diese Momente festgehalten.“

Yonathan strahlte sie an wie eine außerirdische Sonne, das Gelb seiner Jacke tat fast schon weh in ihren Augen und passte doch so wunderbar zum Plakat auf der Litfaßsäule hinter ihm. Und, er rauchte! Sie musste ihn ansprechen, weil es ein Thema für Paris war, Raucher vor die Kamera zu bringen. Er fand es außergewöhnlich, dass sie sich dafür interessierte. Sie wusste, dass die Kamera ihr schon oft die Kontaktaufnahme erleichtert hatte und dankte ihm mit dem Versprechen die Bilder nach ihrer Rückkehr zuzusenden .

Notre Dame – Unsere Liebe Frau – nur von außen zu Bestaunen. Der Brand wurde gelöscht, die Wunden zu heilen dauert länger. Kräne ragen um die Kathedrale in den Himmel, was ihrer Schönheit dennoch keinen Abbruch tut. Sie nimmt Platz auf der temporären Tribüne gegenüber dem Hauptportal und versinkt in die detailreichen Verzierungen, die Steinmetze und Bildhauer Jahrzehnte lang geformt haben.

„Die Taube hat sich aufgeplustert im Schlaf, vielleicht findet es sie gemütlicher so, nimmt keine Notiz von den vielen Menschen um sie herum. Geliebt, gehasst, verehrt, verachtet … das ist ihr gerade egal. Sie balanciert mit den roten Beinchen auf dem Geländer. Wenn es ganz still wäre, könnten alle ihr leises Schnarchen hören. Können Tauben schnarchen? Dem bärtigen Mann mit Brille und blauer Jacke scheinen die Taube und die Kirche nicht zu interessieren. Er steht direkt im Sichtfeld aller Zuschauer, gefangen im Nachrichten-Bilder-Strom, der unaufhörlich seine Aufmerksamkeit fordert.“

Der Weg führt entlang der Seine, dem ewigen Strom durch die Stadt. Sie sieht Boote voll mit Menschen. Brücken so weit das Auge reicht. Die Uferseiten bebaut mit herrlichen Gebäuden. Es ist ein Gewusel! Von allen Seiten Passanten, Hunde, Fahrräder, Autos, Geräusche, Musik, Düfte, Bilder, Geschichten. Pures Leben.

Sie mag diese Mischung aus Allem. Diese Vielfalt der Kulturen, die sich locker und leicht zu vermischen scheinen. Selbst auf den Fahrrädern sind die Menschen mit Stil unterwegs, jede Straße und Gasse wie ein kleiner Laufsteg. Keiner wird bewertet. Die kleine Combo auf der Insel Saule Pleureur de la Pointe unterhalb der Pont Neuf probt unter freiem Himmel. Die Musik ist weit entfernt noch zu hören, hat Kraft und Energie. Ein Moment, genau richtig, ihn jetzt in ihrem warmen Herz zu verankern.

„Im Oberdeck vom Bus scheint die Sonne etwas länger in die Gesichter der Passagiere. Der junge Mann mit Mütze und Kaputze über dem Kopf scheint schon zu frieren auf dem Weg zu seiner Verabredung. Einsam baumelt ein hellbrauner Schuh an einem Laternenpfahl, lost and never found. Lässig auf dem Geländer sitzend wartet der Junge mit seinem Rad unweit der Brücke. Der nächste Song in seinen Ohren wird Ne te regarde pas sein“

Der Blinde

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt, die nicht ist auf seiner dunklen Stelle, wie ein dunkler Sprung durch eine helle Tasse geht. Und wie auf einem Blatt ist auf ihm der Widerschein der Dinge aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein. Nur für sein Fühlen rührt sich, so als finge es die Welt in kleinen Wellen ein eine Stille, einen Widerstand -, und dann scheint er wartend wen zu wählen: hingegeben hebt er seine Hand, festlich fast, wie um sich zu vermählen.

Rainer Maria Rilke

Seelenheil – wo bist du?

„Geh Du vor“, sagte die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht. Vielleicht hört er auf Dich.“
„Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für Dich haben“,
sagte der Körper zur Seele.

Ulrich Schaffer

Der Körper, Hülle der jungen Frau, muss schon leisten in diesen Zeiten. Der Geist, schwirrend in jeder Faser, muss alles geben in diesen Zeiten. Am Anschlag, zum Zerreißen gespannt – beides. Wer gibt als erstes auf?

Erschöpfung, Verdrängung, Verzweiflung, Verweigerung – Zusammenbruch. Die Pause war doch fast ein ganzes Jahr, bis dieser Kreislauf von Neuem begann. Rückzug auf die Urbedürfnisse, Nahrung für Körper und Seele sind gefordert.

Ohnmacht, Hilflosigkeit, Bedauern, Reaktionen – Liebe und Zuversicht schenkend. Eine Herausforderung für alle Beteiligten. Mit offenen Arme, Worten und Geduld begleiteten wir sie durch schwere Tage. Ist irgendwo ein Licht am Ende des Tunnels?

Sie schreit es kraftvoll in die Welt mit all ihren Sinnen, ich bin stark, eine Kämpferin, ich werde es überwinden, ich kann mir helfen lassen und lernen mir selbst zu Helfen. Prozesse starten, verändern das Denken und ihr Handeln. Geben Kraft für alles was vor ihr liegt.

Die Schönheit der Welt, die Magie des Zufalls, die Liebe von Menschen – sie kann es wieder sehen, spüren und annehmen. Die dunklen Schatten der vergangenen Monate streifen sie ein letztes Mal bevor sie sich in Luft auflösen. Sie dürfen gehen!

„Seelenheilung“ – Triptychon (Fotos: Sandra; Retusche: Simone)

Ursprünglich wurden diese Fotos als Hausaufgabe zu einer Textpassage aus dem Buch „Eine schöne Geschichte der Fotografie“ von Péter Nádas konzipiert.

Kein Halt mehr in Tanglin

Wo seid ihr nun, Städte, mühsam aufgeschichtet, Häuser, über gähnenden Gassen aufgetürmt, getürmte Kirchen, aufstarrend ins Blau, Paläste, Kuppeln, qualvoll emporgerissen? Und ihr, junge Menschen, gebäumte, aufstürmende Kinder, die leeren Hände steil emporgeworfen, emporgeworfen die heißen, vorzeitigen Gesichter, die schreienden Münder aufgewölbt, wo bist du, beraubte, entwurzelte Jugend mit der großen, rührenden Gebärde ins Leere hinein?

Maria Waser
(1878 – 1939)

Die Baumaschinen empfangen mich schon an der Haltestelle, an der ich meinen Bus verlasse. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die „Church of the Blessed Sacrament“ deren hellblaue Dächer von der Straße aus gut sichtbar sind. Direkt daneben der Sri Muneeswaran Tempel, dessen Geschichte bis ins Jahr 1932 zurückreicht. Zwischen dem Commonwealth Drive und der alten ehemaligen Bahntrasse nach Malaysia, die sich jetzt Green Corridor nennt und zum Wander- und Radweg umfunktioniert wurde, stehen Wohnblocks für mehr als 3.600 Haushalte. TANGLIN HALT.

Die ersten Wohnungen wurden in den 1960er Jahren errichtet, bis 1972 waren alle bezogen. Das Wohngebiet gehört damit zu einem der ersten in Singapur, die vom HDB (Home Development Board) Wohnraum für viele Menschen schafften. Markthalle, zwei Foodcourts, viele kleine Geschäfte, Theater, Communitycenter, ein großer Sportcomplex, Kirche, Tempel, Moschee – alles vorhanden und dankbar angenommen von den Bewohnern.

Bis 2024 wurde die Frist nun verlängert, dann rücken die Abrissbagger endgültig an, alles wird dem Erdboden gleich gemacht, Neues soll entstehen. Höher, moderner, teurer. Viele der alten Bewohner sind bereits ausgezogen und weitere werden es müssen. Umsiedlung in andere HDB Wohnkomplexe. Nach 70 Jahren hier fällt das nicht jedem leicht. Gerade die Älteren hadern mit diesem Schicksal, die Jüngeren finden Gefallen an den neuen Wohnprojekten, die hier entstehen werden. Zweimal durchstreifte ich die Gegend mit der Kamera. Ich mag diese morbide Stimmung, die den Häusern anhaftet. Jede Haustür verbirgt seine Familiengeschichte. Jedes Stockwerk seine kleine Gemeinschaft, die sich jetzt auflösen wird.

Ein frischer Wind entwurzelt nicht.

Raymond Walden

Mit Entwurzelungen bin ich vertraut. Prägen quasi mein Leben. Die Oma als Sudetendeutsche vertrieben aus Tschechien, der Opa als Ostpreuße vertrieben aus Polen. Die Mutter verlässt mit 18 die Heimat und bleibt am Studentenort für immer. Tante und Onkel brechen die Zelte in der alten Heimat im Osten ab und folgen den beiden Kindern in den Südwesten. Auch wir suchen unser Glück im „goldenen“ Westen. Die längste Zeit meines Lebens habe ich im Haus der Bäckerei verbracht, danach gab es Umzüge im 2 – 6 Jahrestakt. Ich mag den frischen Wind, der immer wieder in mein Leben bläst. Und doch schwingt da eine kleine Sehnsucht nach Beständigkeit mit, einen Platz zu finden der Heimat sein kann. Oder ist das Vagabundenleben zu sehr verwurzel und mein Schicksal?

Es gibt ein Bleiben im Gehen,
ein Gewinnen im Verlieren,
im Ende einen Neuanfang.

Aus Japan

In Rückblick waren die Veränderungen in meinem Leben immer die Erfahrungen wert, die mit ihnen einhergingen. Ohne diese Umbrüche wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Zum Wachsen an den neuen Umständen und Aufgaben gesellten Rückschläge und Widerstände. Leben nennt sich das wohl. Je älter man wird, desto schwieriger akzeptiert der eine oder andere Veränderungen. Eine meiner Omas musste im betagten Alter ihr Zuhause verlassen. Auch wenn sie danach näher bei der Familie lebte, die Sehnsucht nach ihrem Dorf war schwer zu überwinden.

Hier in diesem Gebiet wird wahrscheinlich nichts mehr so sein wie es jetzt noch ist. Ich gehe gerne ganz bewusst an solche Plätze und versuche einen kleinen Ausschnitt zu dokumentieren. Spannend für mich ist dabei auch die Recherche, viele alte Fotos von Tanglin Halt finden sich zum Beispiel hier: https://mycommunity.org.sg/guided-tours/my-tanglin-halt-heritage-tour/

Dann bereue ich manchmal nicht schon viel früher mit ernsthafter Dokumentation begonnen zu haben. Immerhin erhalte ich hier die Möglichkeit und als Bonbon einige Stimmen der EinwohnerInnen zu bekommen, erfreut mein Herz.

wenn wir weitergehen
sollten wir immer etwas zurücklassen

Anke Maggauer-Kirsche

Eine ältere Frau fragt, was ich hier mache? Fotos, um die Erinnerungen zu bewahren, erkläre ich ihr. Sie ist erfreut und berichtet von ihrem Einzug, da war sie 27 Jahre alt, der Sohn gerade geboren, jetzt ist sie weit über 70 und muss bald ausziehen. Wenn sie die Schlüssel zur neuen Wohnung bekommt, bleiben ihr drei Monate die alte zu verlassen. Die Küche sei zu klein dort, da passt sie nur allein hinein und überhaupt ist das Appartment kleiner. Begeisterung erkenne ich nicht in ihren Worten. Ob sie denn Nachbarn hat, die auch dorthin umziehen werden. Ja, die meisten ziehen in die von der Regierung zugewiesenen neuen Apartments, die nicht so weit entfernt liegen. Dennoch gefiel es hier sehr gut und sie wird es vermissen. Auf ihre alten Tage hatte sie nicht mehr damit gerechnet. Etwas traurig läuft sie in Richtung des kleinen Marktes, ich sehe sie später dort mit anderen älteren Frauen zusammensitzen beim Mittagessen.

Die Geschichte eines Hauses ist die Geschichte seiner Bewohner, die Geschichte seiner Bewohner ist die Geschichte der Zeit, in welcher sie lebten und leben, die Geschichte der Zeiten ist die Geschichte der Menschheit.

Wilhelm Raabe

Letztlich hat mir irgenwie immer die Neugierde und mit zunehmendem Alter die Akzeptanz geholfen, mich immer wieder neu einzuleben, anzukommen und irgendwann Abschied zu nehmen. Kontakte zu bewahren und Beziehungen zu Menschen aufrecht zu halten, die mir wichtig sind. Ich kenne mittlerweile mehr Bekannte, die nicht stetig am gleichen Ort gelebt haben, vielleicht eine Art Auswahl, die ich unbewusst treffe oder eine Konsequenz daraus, dass ich mich doch mit Gleichgesinnten umgebe? Wer weiß das schon. Wahrscheinlich sind jetzt einfach sehr viel mehr Menschen unstetig und mobil, als noch in meinen ganz jungen Jahren. Die Perspektive zu wechseln schmerz manchmal, aber sie schärft den Blick auf das was mir wichtig ist.

Auch wenn dieses Wohnviertel demnächst nicht mehr existieren wird, die Menschen und ihre Geschichten bleiben bestehen. Sie werden ihren Kindern und Enkelkindern vom Leben in Tanglin Halt erzählen. Ihr Leben weitergeben und vielleicht auf die alten Tage neue Bekanntschaften machen. Wurzeln verliert man nicht, man kann sie aber ausgraben und neu anpflanzen, manche blühen sogar besser am neuen Standort.

Der Baum der Zukunft lebt von den Wurzeln der Vergangenheit.

Hermann Lahm

Bye Bye Tanglin Halt

Die Dörfer sind vergangen.

Über die Dörfer

Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. 
Sei nicht die Hauptperson. 
Such die Gegenüberstellung. 
Aber sei absichtslos. 
Vermeide die Hintergedanken. 
Verschweige nichts. 
Sei weich und stark. 
Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. 
Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. 
Sei erschütterbar. 
Zeig deine Augen, wink die anderen ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. 
Entscheide nur begeistert. 
Scheitere ruhig. 
Vor allem hab Zeit und nimm Umwege.
Laß dich ablenken. 
Mach sozusagen Urlaub. 
Überhör keinen Baum und kein Wasser. 
Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. 
Bewege Dich in deinen Eigenfarben; bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. 
Geh über die Dörfer. 
Ich komme dir nach.

Peter Handke „Über die Dörfer“

Wirklich alt ist der Sri Lankaramaya Buddhist Temple nicht. Errichtet 1952 in der Michael’s Road ist er damit wohl ein bisschen historisch für Singapur und könnte bestimmt viele Geschichten erzählen über die Zeit vor fast 70 Jahren. Hochhäuser warfen wahrscheinlich noch keine Schatten auf die große weiße Pagode, die auf dem Dach des Tempels mit ihrem grellweißen Anstrich gegen den blauen Himmel den Eindruck vermittelt, man befinde sich irgendwo im Himalaya. Berühigend lächelt einem der übergroße Buddha in Lotushaltung zu und lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dies auch die nächsten 70 Jahre noch zu tun. Im Garten steht ein Lebensbaum, dessen Blüten ihm gefallen und vor seinen Abbildern niedergelegt werden. Leise erklingt Gemurmel auf einem kleinen Gebetrsraum, meditative Musik als Hintergrundrauschen verstärkt diese gelöste Stimmung, die einen hier befällt und warm umschließt. Wer könnte diesen friedlichen Ort nicht mögen?

Im Central Sikh Gurdwara Tempel bedarf es konformer Kleidung, da wird keine Ausnahme gemacht. Bestimmt, aber sehr freundlich der Zugang verweigert. Für den nächsten Besuch muss ein langes Tuch ins Gepäck, um den Kopf zu verhüllen, langes Beinwerk ist ebenfalls von Nöten. Die Straße fragt nicht nach deinem Aussehen, erlaubt fast alles, ist geduldig mit seinen Besuchern. An jeder Ecke neue Ansichten, Aussichten, Einsichten.

Kleinigkeiten wecken Interesse, 1088A – eine sehr lange Straße hat der Postbote hier zu beliefern. Die zwei Damen aus Porzellan warten geduldig auf ein neues Zuhause. Wie viele Augenpaare wohl schon auf sie blickten und dann doch weitergingen. Die kleinen Eckrestaurants warten auf Hunrige, Durstige, Neugierige oder Plaudertaschen. Besen und Hüte haben Pause. Der Verkehr fließt wie ein stetiger Fluss an allem vorbei. Die Bauarbeiter ziehen vom Frühstück zur Baustelle zurück, um Träume von großen neuen Wohnungen wahrwerden zu lassen. Die Hütten der kleinen Dörfer sind Geschichte, die Bewohner von damals wären sicherlich erstaunt über diese enormen Veränderungen. Gut, das einige alte Häuser noch immer dem Bauboom trotzen. Ein lustiger Kakadu redet viel, darf nicht fliegen, sein Paradies ist woanders.

Ein Relikt aus alten Zeiten findet sich kurz vor dem Indischen Tempel. Kohlen werden hier gehandelt, die ältere Frau ist schwarz wie ein Mohr (darf nicht mehr geschrieben werden, gibt es eine bessere Bezeichnung?), sie schuftet hier schon seit den 60ern. Staublunge vermutlich inklusive. Die schön gemusterten Bodenfließen sind überzogen mit Ruß. Früher wurde viel mit Kohlen geheizt, auch dort wo ich aufwuchs musste geschippt werden, eimerweise in den Keller, eimerweise wieder in die Wohnung geschleppt. Sie sortiert die Kohlenstücke in tragbare Säcke zum Verkauf. Bald will sie sich zur Ruhe setzen, es wird wohl keine Nachfolge geben, vermutlich. Kohlen braucht fast niemand mehr.

Vertraute Klänge schallen aus dem Sri Vadapathira Kaliamman Temple, Glockengebimmel, Mantras werden gesungen oder gesprochen. Die Schuhe vor dem Eingang stehen wild durcheinander, Tauben picken in den vertreuten Blüten nach Genießbarem. Hanuman, der Affenkönig wirft einen erhabenen ernsten Blick auf jeden, der hier vorbeikommt. Friedlich faltet er seine Hände zum Gebet. Im kleinen Laden nebenan liegen Kekse und Gewürze, die Verpackung erinnert an die Kindheit der Kohlenfrau. Vielleicht hat sie sich hier ab und zu eine Süßigkeit geholt, während ihre Eltern damals die Säcke füllten.

Ums Eck locken zwei weitere Tempel, die eine Art Zirkusarena bilden. Wilde Tiere, farbenfrohe Dekoration inklusive. Im Leong San See Temple wird vielen Buddhastatuen gehuldigt, die alte Dame im Rollstuhl ist bei der angenehm ruhigen Atmosphäre eingenickt. Gegenüber bespricht sich eine Frau im Tierdruckshirt mit dem Tiger vor dem Sakya Muni Buddha Gaya Temple. Der riesenhafte Buddha im Inneren passt auf kein Foto und erschreckt mehr, als beruhigend zu wirken. Sehenswert ist es trotzdem. Heute nur für Einheimische, die Zeit finden und vielleicht den Schatten suchen.

Serangoon endet oder beginnt in Little India. Dörfer sucht man vergeblich. Das letzte Kampong liegt in Pungol. Es wartet schon auf einen Besuch.

Allerlei streift den Blick auf den letzten Metern, ein bunter Strauß voller Nebensächlichkeiten, die dieses Viertel so lebendig erscheinen lassen. Hinter jeder Straßenecke verbirgt sich eine Gasse voller kleiner Geheimnisse. Wer genau hinschaut findet sein Seelenheil. Nie war der berühmte Mix der Kulturen derart greifbar, spürbar, erlebbar, genießbar, wunderbar. Mögen diese Gassen ihren Charme nicht verlieren und für die kommenden Besucher standhaft der Modernisierung trotzen. Sie hätten es verdient.

Genau hinsehen

Fülle ist nicht immer Fülle.
Nur zusammen mit Leere
ist Fülle Erfüllung für uns.
Das Leben braucht den Platz der Leere,
um sich auszubreiten und seine einmalige Gestalt anzunehmen.

Zeit ist nicht Geld, sondern Zeit.
Wenn ich der Zeit erlaube, sich mir zu schenken,
wird sie mich mit Reichtümern überschütten.
Dann wird durch die Zeit
die Ruhe und das Glück des Entdeckens möglich.

Beschäftigung ist nicht Bedeutung.
Was ich ohne Beteiligung meines Wesens tue,
bleibt nur die Tat meiner Hände, meiner Lippen, meines Körpers.

Ein volles Programm ist nicht unbedingt ein erfülltes Programm.
Weniger zu tun kann heißen, mehr getan zu haben,
wenn es von Herzen kam.

Jeder Weg, der zu etwas führt,
führt auch weg von etwas.
Ich übe, im Wenigen die Fülle zu sehen.

© Ulrich Schaffer