Man bleibt unter sich

Clementi – eine Annäherung

Mit 92.500 Einwohnern erscheint dieser Stadtteil fast wie eine eigene Stadt im kleinen Land. Ich mag diese Quartiere, in denen sich mehrheitlich die Einheimischen bewegen, nur ab und zu verirren wir Ausländer uns hier her. Vornehmlich zum Einkaufen oder Essen in einem der Hawker. Fotografen wie mich treffe ich selten, wenn überhaupt dann Youtuber oder Instagramer, die man an den auf kleinen Stativen montierten Smartphones erkennt. Oder richtige Profis, die gleich eine ganze Filmausrüstung für Filmaufnahmen mitbringen inklusive immer in schwarz gekleideter Crew.

Es herrscht buntes Treiben in den verwinkelten Gassen zwischen Läden, Hochhäusern und Treppen, die zur U-Bahn oder den Bushaltestellen führen. Alle scheinen in Eile zu sein an diesem Mittwoch Anfang Dezember. Ein Kommen und Gehen wie in einem Bienenstock. Keiner nimmt Notiz von mir, die meisten blinzeln nur in meine Richtung und sind wahrscheinlich erstaunt, eine Person mit echter Fotokamera zu sehen. Wenn überhaupt fotografiert wird, dann doch bitte mit dem Smartphone. Es will auch keiner aufs Bild. Es wird sich geduckt, gewartet, die Hand vor das eh schon halb maskierte Gesicht gehalten, der Kopf weggedreht oder sich gleich im Laden versteckt. Selten lächelt mich jemand an oder ist bereit für ein Foto zu „posieren“. So bleibt mir heute nur das Einfangen der Stimmung dieses Ortes mit den Gegenständen. Verschwommen wie durch eine unscharfe Brille. So fühle ich mich. Keine echte Straßenfotografieromantik kommt auf. Vielleicht wurde sie hier in Singapur beerdigt. Wenn es sie je gab, denn die unzähligen Touristen waren den Bewohnern zwar lieb zum Geschäfte machen aber eventuell ein Dorn im Auge für die dauernden Fotos, die mit den ach so tollen Smartphones geschossen wurden.

Viele der überall zu findenden Plastikstühle bleiben leer an diesem Vormittag. Allein vor den Garküchen sitzen die Menschen, gönnen sich einen Kaffee oder ein kleines Frühstück. Wer noch einen Job hat kann sich das leisten. Selbst bei den günstigen Preisen müssen viele nun auf das Geld achten. Singapur kennt keine Arbeitslosenversicherung. Diese wurde vor Jahren schon von der Oppositionspartei (Arbeiterpartei) gefordert. Wie nützlich wäre sie jetzt in diesen Zeiten gewesen. Hier nennt sich diese „Finde einen neuen Job!“. Nur wo ist die Frage.

Die schmalen Wege hinter den Verkaufsständen um die Markhalle herum sind beliebte Pausenbereiche der Ladenbesitzer oder der Raucher. Hier stapeln sich leeren Kisten, Behälter für Essen und Geschirr zum Spülen. Auch einen kleinen Altar zum Beten für alle Religionen finde ich hier. In der Markthalle suche ich wieder den Laden auf, der die Utensilien für die Gläubigen anbietet. Räucherstäbchen, Papiergeld, Kerzen und die nachgemachten Waren zum Verbrennen an den Gräbern der Verwandten. Ich finde zwei sehr nette Frauen, deren Stände gegenüber liegen. Sie finden es interessant, dass ich mich dafür interessiere und verkaufen mir gerne ein Paket, in dem Kosmetikartikel für Frauen nachgebildet sind. Die kleinen Schachteln haben so wundervolle Motive, die ich für eine Collage verwenden möchte. Heute hatten sie wohl keine Kundin aus Deutschland erwartet.

Ich gönne mir ein reichhaltiges Mahl mit braun-rotem Reis, Tofu und Gemüse dazu einen Eistee. Manchmal würde ich einfach gerne den doppelten Preis bezahlen und den Verkäufer/innen etwas mehr zukommen lassen. Aber Trinkgeld ist hier fast verpöhnt. Jeder gibt auf den Cent genau das Wechselgeld wieder. Allein die Lierferanten nehmen zwar immer erstaunt aber dann sehr gerne ein paar Dollar entgegen, wenn sie etwas in unserer Wohnung abliefern. Mein Weg führt mich zwischen den kleinen Läden in Richtung U-Bahn zurück. Um wenigstens ein bisschen Umsatz zu generieren kaufe ich Pflegeprodukte, die wir gerade brauchen, zwei Oberteile zum Verschenken und Gebäck zum Nachmittagskaffee. Die Uhren scheinen heute schneller zu laufen, genau wie die Menschen, die immer noch an mir vorbei strömen und ihren Alltag meistern. Der Herr vor mir kauft bei der kleinen Bäckerei nur ein süßes Stückchen. Nebenan wirbt ein großer Becher für den berühmten Bubbletee. Und mir fallen die vielen Rollstuhlfahrer auf, die hier Taschtücherpäckchen verkaufen (müssen). Einem kaufe ich welche ab, er ist schwer gezeichnet von seiner Behinderung und ringt sich dennoch ein Lächeln unter der Maske ab. Dann verschwinde ich wieder aus Clementi. Auf ein baldiges Wiedersehen. Es gibt hier noch viel mehr zu entdecken, wie ich bei meiner Recherche gelesen habe.

Allein die Sterne fehlen

Ach, nur im Dunkeln funkeln die Sterne!

Paul Scheerbart (1863 – 1915)

Wenn es Nacht wird in Singapur, leuchtet so ziemlich alles, außer den Sternen. Straßenlaternen über die ganze Stadt verteilt erhellen auch die abgelegensten Wege. Gebäude werden von außen angestrahlt, aus den Fenstern dringt Licht ins Freie, sogar die Treppenhäuser in den Hochhäusern kennen keine Bewegungsmelder und leuchte die ganze Nacht. Werbeanzeigen, Warnleuchten auf den Dächern und Funkmasten. Unzählige Autos ziehen ihre Lichtspuren in den Straßen, dazwischen ab und an ein Rennradler mit Blinklicht. Die Stadt ist so hell, dass die Wolken von unten angestrahlt werden und immer als weiße Schäfchen am Nachthimmel prangen. Zum Glück haben wir Vorhänge in den Schlafräumen, denn die Nachbarn lassen gerne das Licht brennen. Kein warmweißes, sondern das extra helle Krankenhauslicht. Obwohl die Energiekosten nicht gerade günstig sind, Stromsparen ist wohl nicht so populär in der City. Zum Sternegucken müsste es eine lichtfreie Zone geben, die hier eher nirgends zu finden sein wird. Dafür kann ich mich nur auf die einsame Alm in Tirol träumen, wo wir in klaren Nächten ungehindert die Milchstraße bewundern konnten.

Den Vorteil der vielen Lichter nutze ich für ein paar Aufnahmen meiner geliebten bewegten Bilder. Damit lassen sich zumindest die künstlichen Lichtspuren perfekt einfangen. Die immer warmen Nächte machen Nachtaufnahmen etwas leichter, keine Jacke, dicke Handschuhe oder Mütze beim Einsatz erforderlich. Und irgendwann werde ich auch die Milchstraße mit ihren Milliarden Sternen wiedersehen.

Ghost Town

Ein Geist geht um in der Stadt, unsichtbar und aller Orten. Sie kann ihn nicht sehen und spürt ihn dennoch auf Schritt und Tritt. Er verfolgt sie und alle anderen, die draußen unterwegs sind. Warnschilder überall, geklebt, aufgestellt oder hingehängt. Sie schützt sich wie alle mit einer Maske im Gesicht und hat das Gefühl, damit ein Stück ihrer Identität zu verstecken. Keine Reaktion in den Gesichtern mehr zu sehen. Nur die Augen verraten ab und an die Stimmungslage ihres Gegenübers.

Es herrscht Angst, nicht mehr nur vor Ansteckung und den Folgen einer Krankheit, die global alles verändert hat. Existenzen stehen auf dem Spiel. Es ist oft so ruhig, dass es wie eine Geisterstadt wirkt. Leere Straßen, Plätze, Räume, wo einst Handel getrieben oder Essen serviert wurde. Dieses wird jetzt noch öfter von den motorisierten Reitern abgeholt und in die sicheren Wohnungen geliefert. Dort wo Menschen auswärts essen beobachtet sie viele einsame Gestalten, die allein an einem der Tische sitzen. In die Luft starren oder auf das Display des Telefons. Geselligkeit, Unbeschwertheit, Lachen? Wo seid ihr, der Geist der Pandemie hat euch vertrieben.

Auf Abstand bleiben, nicht reden während die Metro durch den Untergrund braust. Check-In, Check-Out. Routine mittlerweile für sie und alle anderen. Wie lange noch? Für immer? Hoffentlich nicht. Alles fliegt heute an ihr vorbei, kein Innehalten möglich. Möglichst schnell das Wichtige erledigen, um zurück in die sicheren vier Wände zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach ein wenig innerer Wärme, Hoffnung, Zuversicht, einem Gespräch.

Im dritten Stock des Einkaufszentrums tritt sie ein in die vielleicht 30 qm Oase des kleinen Glücks. Neben zwei Ständern mit Postkarten und einer kleinen Auslage von handgemalten Karten steht sie hinter der Theke. Sie nennt sie Estelle, weil sie ihren richtigen Namen noch nicht kennt. Die betagte Dame ist immer ordentlich gekleidet und frisiert. Sie trägt Perlenohrringe zur passenden Kette. Vor ihr steht eine alte grüne Waage, ein Notizblock und ein Taschenrechner liegen bereit. Ihr Mann steht vor der Theke, sie trinken Tee zusammen. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Im hinteren Teil des Ladens soll ein kleines Fotostudio für weitere Einnahmen sorgen. Niemand braucht gerade Postkarten. Sie kauft immer welche und heute noch einen Stapel Briefmarken dazu. Estelle verpackt alles gewissenhaft, wiegt die Briefe ab und klebt die Marken sorgfältig darauf. „My dear“ sagt sie immer, da schmilzt ihr das Herz, wenn sie es hört. Sie verwickelt Estelle in ein Gespräch. Seit 47 Jahre betreibt sie dieses kleine Geschäft, steht immer außer Sonntags hinter der engen Theke. Kaum zu glauben, dass sie schon 76 Jahre alt sein soll. Im Juli 1945 wurde sie geboren, ihre Schwester ein Jahr vor ihr. Und als sie ihre Maske absetzt, staunt sie über das frische Gesicht und die glatte Haut. Schwere Zeiten momentan, ohne die Hilfe ihrer Tochter könnte sie den Laden nicht halten. Aber zu Hause sitzen und dunklen Gedanken nachzuhängen liegt nicht in Estelles Natur. Sie kämpft weiter und hofft, dass es bald wieder mehr Menschen in ihr kleines Geschäft zieht, um Postkarten zu kaufen und vielleicht einen Bogen Geschenkpapier.

Beseelt von diesen Minuten voller Worte macht sie sich auf den Rückweg. Die Geister werden noch eine Weile durch die Gassen ziehen, Halloween lockt Kameraden an, die sich vor den Geschäften in Stellung bringen. Vorsicht ist geboten.

Zum Glück gibt es in Asien jede Menge guter Geister, denen reichlich Gaben und Opfer erbracht werden. Die Hoffnung auf bessere Zeiten gibt hier so schnell keiner auf.

Nicht starke Mittel, sondern starke Geister ändern die Welt.

Alexandre Dumas der Jüngere (1824 – 1895)

Die Liebe zur Unschärfe

Du kannst dich nicht auf deine Augen verlassen, wenn deine Vorstellungen unscharf sind.

Mark Twain

Mit der Einschulung bekam sie eine Brille. Scharf sehen kann sie seit diesem Ereignis nur durch zwei Gläser vor den Augen. Mit knapp 16 nistete sich zu allem übel der Parasit Toxoplasma gondii ausgerechnet in ihrem rechten Auge ein. Rohes Fleisch, Katzen im Haus, keiner weiß genau, wie er in sie eindrang. Eine Entzündung führte zu einem Krankenhausaufenthalt und zurück blieb eine Narbe im Auge, die als grauer Bereich für immer einen Teil des Sehfeldes einschränkt. Gratulation. Immerhin gleicht das linke Auge die Sehkraft zum Großteil aus. Selten erblinden Menschen daran, also doch irgendwie Glück gehabt. Wenn sie es unscharf braucht, muss sie nur die Brille abnehmen. Für die Fotografie ist es manchmal ein Hindernis. Durch den Sucher zu schauen kann sie nur mit dem linken Auge. Mit zunehmenden Alter muss sie die Brille absetzen zum Betrachten der Ergebnisse auf oder dem Fotografieren mit dem Display. Unscharfer Alltag, der sie trotzdem nicht besonders stört. Manchmal winkt sie Menschen, die sie gar nicht kennt. In der Sauna muss sie nicht alle Details betrachten. Eine gewisse Unschärfe kann auch Vorteile haben.

Vielleicht mag sie deshalb diese Fotos so sehr, die sich mit der „Bewegten Kamera“ herstellen lassen. Schärfe ist doch immer und überall gewollt. Perfektion gilt als deutsche Tugend. Geordnet sollte das Leben sein, klar und strukturiert. Nach System und Schema F bitte schön. DIN ist immer hilfreich oder erforderlich und bitte für alles eine passende und beschriftete Schublade. Nur kein Wischi Waschi.

Dabei ist die Welt in den unscharfen Bereichen doch viel interessanter. Wenn der liebe Zufall eine unerwartete Begegnung herbeizaubert. Der Moment anders verläuft als geplant. Ein bisschen Chaos den Alltag durcheinander wirbelt, der Plan nicht immer funktioniert. Das Essen besser schmeckt wenn es nicht genau nach Rezept gekocht wird. Ziele entdeckt werden, weil die vorgegebe Route durch einen Stau ganz anders umfahren wird.

An die perfekten Tage in der Vergangenheit erinnert sie sich selten, eher an die ungewöhnlichen, die unscharfen. Diese ungewissen Zeit in den frühen 90ern, schon unscharf in der Erinnerung und dennoch prägend. Hilflos, planlos, selbst entscheiden müssen, die Eltern hatten eigene Hindernisse zu überwinden. Selbstbewusst werden, ausprobieren, Risiken eingehen. Später einsehen, dass nicht alles optimal verlief und trotzdem den Mut nie verloren zu haben. Die Kamera ist eine treue Seele, ihr Werkzeug sich auszudrücken. Schon sehr lange an ihrer Seite, quasi verheiratet mit ihr.

Gemeinsam neue Ecken zu erkunden, die Unschärfe finden im so durchorganisierten Singapur. Die klaren Regeln und Vorgaben aufzuweichen, soweit es möglich ist. Das bewegte Leben festzuhalten. Oder den stillen Objekten Leben einzuhauchen. Tanzende Stoffe, hüpfende Gurken, rotierende Palmen oder entfliehende Rosen an der Hauswand. Sie findet immer wieder Momente der Unschärfte, sie sind das Salz in ihrem Leben. Oder doch der Zucker? In Asien wohl eher das Chili.

Die Unschärfe ist eine Form der Ungenauigkeit, Unbestimmtheit oder Ungewissheit bei der Abbildung bzw. Wiedergabe eines Objekts oder Sachverhalts. Unschärfe ist nicht zwangsläufig ein Fehler, beim Weichzeichnen ist sie beispielsweise erwünscht, in der Quantenmechanik ist sie prinzipieller Natur und daher unvermeidbar. Quelle: Wikipedia