Mit geliebten Menschen zusammen sein: mehr braucht es nicht; träumen, mit ihnen sprechen, nicht sprechen, an sie denken, an die gleichgültigsten Dinge denken, aber in ihrer Nähe: alles gilt gleich.
Jean de La Bruyère (1645 – 1696)
Nähe ist gerade nur im sehr kleinen Kreis möglich. Und diese ist Manchem dann zu nah, zu ausdauernd, zu eng. Nähe darf, muss, kann, sollte ausgehalten werden. Ohne Nähe zu Anderen ist man sich nur selbst noch nah. Diese eingeschränkte Nähe ist herausfordernd, intensiv, anstrengend und immer wieder schön. Ich übe mich immer noch darin.
Dank einer Nahlinse komme ich meiner nahen Umgebung ganz nah und krieche förmlich an die winzigen Schönheiten in der Natur heran. Eine Spielerei. Zum Üben durfte die Natur herhalten. Die Menschen sind nicht vergessen, sie zieren sich noch, doch die Nähe treibt sie bestimmt bald zu mir und vor die Nahlinse.
Ein Augenblick reinster Liebe vermag unsere Seelen so tief berühren, dass der Himmel näher scheint als der Boden unter unseren Füßen.
Diesen schönen Beitrag über das Wandern habe ich gefunden und bediene mich heute einfach dessen Worte.
Mancher macht es zum Vergnügen in der Freizeit, im Urlaub oder aus sportlichen Gründen: wandern. Der Begriff „Wandern“ bedeutet ganz allgemein, von einem Ort zum andern ziehen und zwar zu Fuß. Wobei das aus ganz unterschiedlichen Beweggründen und auch mit unterschiedlichen Mitteln geschehen kann. Sich mit den eigenen Füßen fortzubewegen, ist seit Menschengedenken die einfachste Form, um sich von A nach B, von einem Ort zum anderen, zu begeben. „Auf Schusters Rappen“ sozusagen. Weil Schuster mit ihrem Handwerk des Besohlens von Schuhen nicht viel verdienten, konnten sie sich natürlich auch keine Rappen, schwarze Pferde, leisten und mussten zu Fuß gehen.
Wir leisten uns nur ein Foto vom Pferd.
In der Alltagssprache wird die Wendung scherzhaft verwendet, wenn man statt des Autos oder Fahrrads eben mal zu Fuß geht. Wie die Handwerksburschen mit ihrem Wanderstecken, dem Wanderstab und einem geschnürten Bündel, dem Vorläufer des Rucksacks. Noch heute kann man manchmal in Deutschland Zimmerleute in traditioneller Kleidung auf ihrer Wanderschaft sehen. Früher waren die sogenannten Wanderjahre für Handwerksburschen obligatorisch. Nach der Lehrzeit hieß es erst einmal: wandern! Erst dann konnte die Meisterprüfung abgelegt werden.Während der Wanderzeit – und das war Sinn und Zweck dieser Pflicht – wurden überall bei den Meistern der jeweiligen Zunft Erfahrungen gesammelt. Wahrscheinlich stammt daher der Ausdruck „bewandert sein“, was bedeutet, dass man sich sehr gut in einer Sache auskennt.
Blick ins DorfWeinbergtreppenAuf der Sonnenbank
Wer auch wanderte, waren die sogenannten „fahrenden Leute“ ohne festen Wohnort. Die wandernde Schauspieltruppe, der Wanderzirkus, zog von einem Ort zum andern. Die Theaterleute, die Artisten, Clowns und Musikanten waren überall und nirgends zu Hause. Aber auch ganze Völker sind gewandert. Wie zum Beispiel die Germanen. Diese Völkerwanderungen fanden seit dem Ende des dritten vorchristlichen Jahrtausends in Europa statt. Diese Art von Wanderungen war aus der Not geboren, weil man vor Feinden fliehen musste. Manchmal taucht der Begriff „Völkerwanderung“ auch in der Umgangssprache auf als Synonym für eine sehr große Anzahl von Menschen, die sich an einen Ort begibt, etwa in ein Fußballstadion.
Rauchzeichen der EinheimischenSteingartengewächsWaldpfad
Wer heutzutage wandert, tut dies, weil er oder sie sich erholen will
oder weil der Doktor dazu geraten hat, sich viel zu bewegen. Also werden
Wanderschuhe gekauft, Wanderkarten der schönsten Wandergebiete, und
dann geht es los. Auf gut gekennzeichneten Wanderwegen.
Seit der Romantik und der deutschen Turnbewegung steht Wandern in Deutschland hoch im Kurs. Es bildeten sich Wandervereine. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der „Deutsche Wandertag“ ins Leben gerufen. Die alljährlich stattfindende Großveranstaltung deutscher Wanderer hat das Wandern gewissermaßen institutionalisiert.
Mit Grenzwegen kennen wir uns aus. Der überlebt alles.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gründeten in Steglitz, heute Berlin,
Studenten und Schüler den „Wandervogel“, eine Jugendbewegung, die das
Leben mit der Natur zu ihrem Motto machte. Im allgemeinen Sprachgebrauch
gilt heute als Wandervogel, wer gerne und ausgiebig wandert, wer
sozusagen bekennender Wanderer ist.
Aber selbst wer schlecht zu
Fuß ist, muss auf das Wandern nicht verzichten. Schließlich gibt es das
Radwandern. Auch die Ruderer kennen Wanderfahrten.
Zarte Knospen überallRomanitk am Wegesrand
„Wandern“, „zuwandern“, „einwandern“. Vergessen wollen wir nicht das Auswandern. Mancher denkt daran, vor allem wenn sie oder er sich im eigenen Land nicht mehr wohl fühlt. Allerdings machen es die wenigsten dann auch. Denn wohin auch immer man auswandert: zuerst müsste man einwandern.
Ich bin kreuz und quer durch ganz Süddeutschland gewandert, habe im Schwarzwald in Holzhütten genächtigt, bin zu Fuß, nicht nur auf Schusters Rappen, sondern auf nackten Sohlen in die Schweiz gezogen und habe oft statt einer Zimmerdecke auch nur den nackten Himmel über mir gehabt. Als ich seßhaft wurde, war es nur dem äußeren Schein nach. Nirgends hielt es mich lange, und wenn ich drei Monate in einer Stadt zugebracht hatte, trat ein Zustand von Lufthunger ein. Berg und Gebirge zogen mich immer lebhafter an. Ich war monatelang unterwegs, wie um die mir gemäße Landschaft zu suchen. Zwischen meinem dreißigsten und vierzigsten Jahr bin ich in Italien von Stadt zu Stadt gezogen, aber alles Entzücken über die Schönheit, alle Sehnsuchtsbefriedigung konnte mich auf die Dauer nicht festhalten. Nach einer Weile verlangte mich nach einem Wald, nach einer Wiese, einem Schatten gebenden Baum, ja sogar einem schweren Wolkenhimmel. Der Süden rief mich, aber dem Norden war ich zu Eigen.
So still Dass alle Uhren schwiegen, ja, die Zeit kam zum erliegen …
Jupiter Jones
Freie Auswahl im Parkhaus
Mit einem mulmigen Gefühl setzte ich mich am vergangenen Samstag ins Auto und fuhr allein in Richtung Tübingen. Corona, Ausgangsbeschränkung, Isolation, zu Hause bleiben, Familie die ganze Woche um mich herum. Ja, es geht uns im Vergleich zu anderen sehr gut, wir sind alle gesund (im Moment), wir haben ein großes Haus mit Garten, wir haben beide einen Job, der auch in dieser Krisenzeit notwendig ist und ich sogar im Büro arbeiten kann. Wir haben genug zu Essen und auch Klopapier, zwei Fernseher und genug Computer im Haus zur Verfügung. Das Leben ist dennoch anders, wie bei vielen jetzt. Und um ein wenig Abstand von den auf mich einprasselnden Nachrichten zu gewinnen, brauchte ich zwei Stunden mit der Kamera. Tübingen, einer meiner Lieblingsstädte hatte es verdient, den Blick in die leeren Gassen und auf die leeren Plätze, die sonst voller Leben pulsieren, fotografisch festzuhalten.
Gähnend leere Straßen
Der zeitige Samstagmorgen erschien geradezu ideal für diesen Blick. Es waren gegen 09:30 Uhr noch kaum Menschen unterwegs. Die ersten Marktbesucher liefen in Richtung Innenstadt. Zwei Rettunswagen fuhren an mir vorbei und erzeugten den Druck auf meiner Brust, den ich seit ein paar Tagen immer wieder verspüre. Man bildet sich wahrscheinlich die für Corona sympthomatische Atemnot bereits ein, die Psyche verändert wohl gerade mein Körpergefühl.
Paarweise zum EinkaufHeute leider keine Kännchen draußenAbgeriegelt
Sonst sitzen um diese Uhrzeit schon die ersten Gäste vor den Restaurants, Cafes und Bars, um die Morgensonne zu genießen, ein Schwätzchen zu halten oder die Zeitung zu lesen. Heute bleiben die Stühle und damit die Kassen der Besitzer leer. Schwere Zeiten für so viele Branchen. Ein paar Läden haben dennoch geöffnet, das Asiahaus, die Bäckerei, der Obstladen und der Metzger. Auch einen Selbstbedienungsstand mit Kasse des Vertrauens konnte ich entdecken.
Corona CodexNix los im StorchenFlohmarkt vor der Haustür
Der Wochenmarkt an der Jakobuskirche wurde auf den Marktplatz verlegt. Nur ein Paar verirrte Radfahrer traf ich an, die dann das Hinweisschild fanden und sich auf den Weg Richtung Marktplatz machten. Auch einige Familien waren schon unterwegs. Viele ältere Menschen trugen sogar Schutzmasken. Ein Anblick den ich aus Peking kenne. Hier wirkte es so seltsam, noch, denn die Pflicht zum Tragen im Freien wird wohl auch Deutschland bald einführen müssen.
Platz zum KreidemalenTübignen hilftSpiegel finde ich immer
Das kleine Programmkino hat die letzten Plakate hängen lassen. Wie passend „Parasite“ – so ähnlich ist der Virus, er nistet sich ein in den Köpfen und Körpern, hoffenlich nicht in unseren Herzen. Nach zwei Wochen sehne ich schon jetzt die Normalität herbei. Wie fühlt es sich wohl in zwei Monaten an? Ich bin immer noch zuversichtlich, echte Quarantäne blieb uns bis jetzt erspart. Das erwartet uns vielleicht, wenn wir in Singapur einreisen wollen.
Theatrale ZukunftsforschungVorführung ausgesetztLa La LandDer Tod fährt Vespa. Makabere Werbung in Zeiten von Corona.
Gespenstisch ruhig ist es in den Gassen, die Leute weichen sich weiträumig aus. Ich komme mir ein bisschen wie die böse Touristin vor, ein Presseausweis um den Hals wäre jetzt vorteilhaft. Dokumentaion dieser Ausnahmesituation ist meiner Meinung nach wichtig und darum lasse ich mich nicht stören. Die Polizei kreuzte kein einziges Mal meinen Weg. Heute ist es einfach Straßenfotografie ohne Befolgen der DSVGO zu betreiben. Spaß macht es aber nicht wirklich. Ich vermisse das quirilige Gewusel in den Gassen, die Stimmen der Menschen und Klingeln der Fahrräder. Heute höre ich nur das Gurren der Tauben, die auf den Dächern sitzen. Keine Krümel zu finden in den verwaisten Straßen.
Aussicht ohne BetrachterVereinsamtes Fahrrad Die ersten Juden siedelten sich in Tübingen wahrscheinlich schon im 12./13. Jahrhundert an. 1398 wird die Judengasse bei der Krummen Brücke das erste Mal urkundlich erwähnt. Münzgasse ohne Handel momentan
Um der Stille in den Straßen etwas Gutes abzugewinnen, entdecke ich ein paar neue Geschäfte, die mir vorher nie aufgefallen waren. Auch die vielen Schilder und Aufrufe der Besitzer lese ich. Viele haben alternative Lösungen gefunden, ihre Ware an die Kunden zu bringen. Zwei Tüten mit Brötchen vor einer Haustüre rühren mich, kleine Gesten der Hilfsbereitschaft. Den Kaffee hole ich mir beim Bäcker, den ich sonst immer gerne als Pausentreffpunkt für meine Fotokurse in der Stadt aufsuche. „Zum Mitnehmen?“ fragt er mich und muss dann selbst loslachen, bei dieser Frage. „Es ist einfach noch drin.“ meint er und will sich das wohl auch gar nicht abgewöhnen. Die Zeiten werden wieder anders sein, das hoffen auch die anderen Kunden und kaufen heute ein bisschen mehr ein als sonst. Andere Läden haben gleich ganz aufgegeben. Da warten jetzt „zu vermieten“ Schilder auf den Neuanfang nach Corona.
Morgengold für die NachbarnGefangen in der PaarsituationLiebe heute für alleTrotzkopfEndzeitdramaIm Spiegel der GesellschaftErleuchtetes FahrradSystemrelevantes Fahrrad
Mit jeder Straße oder Gasse, die ich durchlaufe trübt sich meine Stimmung etwas mehr. Da kann auch dieses perfekte Wetter, dass den Anschein erzeugt, es ist alles in bester Ordnung, nichts daran ändern. Wo sind die Kinder, die schreiend nach Eis fragen, die Mütter, die Kinderwägen schieben, die Männer, die Einkaufstaschen tragen oder mürrischen Blicks hinter ihren Frauen herlaufen? Wo sind die Hunde, die immer zwischen den Füßen herum wuseln? Wo sind die Studenten und Straßenmusikanten? So sehen entleerte Innenstädte aus, wenn es dann nur noch Onlinehandel gibt.
Die Luft ist raus.Trauerfarbe SchwarzDas Herz der Stadt steht still.Noch eine Entdeckung, ich komme wieder.
In der Reichspogromnacht November 1938 wurde die Tübinger Synagoge – auf Befehl und unter Beteiligung des NSDAP-Kreisleiters Rauschnabel – von SA- bzw. SS-Trupps zerstört und niedergebrannt; Thorarollen und Gebetsmäntel waren zuvor aus dem Gebäude herausgeholt und in den Neckar geworfen worden. Sechs Tübinger Juden wurden verhaftet und für mehrere Wochen ins KZ Dachau verschleppt, zwei starben an den Folgen der Misshandlungen. Die Synagoge wurde auf Kosten der sich in Auflösung befindlichen jüdischen Gemeinde abgebrochen; das Grundstück ging 1940 in den Besitz der Stadt Tübingen über. Die letzten 14 noch in der Stadt verbliebenen Juden wurden 1941/1942 deportiert; von diesen soll nur ein einziger überlebt haben.
Ich weiß jetzt auch, das sich ein Denkmal für die Tübinger Juden an der Stelle der niedergerannten Synagoge befindet. Das werde ich mir beim nächsten Besuch anschauen.
Am Wohnhaus Bursagasse 18 blüht jetzt die Hoffnung.Ziemlich stille Eberhardsbrücke
Meine Touren durch Tübingen finden meistens auf der Eberhardsbrücke und der Neckarinsel ihren Abschluss, die Stadtansicht von hier ziert unzählige Postkarten oder jetzt Instagrambilder. An solchen Tagen mischen sich hier Touristen, Ausflügler und Einheimische, genießen den Neckar, den Park auf der Insel und lassen die Seele und Füße über der Ufermauer baumeln. Heute erdrückt mich die Leere und ich drücke ein letztes Mal auf den Auflöser meiner Kamera. Tübingen – bitte erwache bald wieder, wie alle anderen Städte und Ort auf der ganzen Welt.
Wo sind die Hochzeitspaare?Heute wirklich alles Fassade
Momentan sind andere Dinge wichtig in meinem Leben. Was mit fehlt ist die Zeit für Fotografie, Kunst, Ausstellungen, Begegnungen mit Gleichgesinnten. Ja ich kann mir auch dafür Zeit nehmen, aber wenn der Kopf voll mit anderen Dingen ist, mag ich keine Zeit investieren. Aber ich merke, dass es in mir brodelt und die Kamera(s) schon zu lange im Schrank oder Regal liegen. Sie starren mich an, als beobachten sie mich dauernd, wann kommen wir endlich wieder zum Einsatz. Der Frühling steht in den Startlöchern, das Wetter spielt bald eine andere Melodie und weckt die Geister, die Lust am kreativ sein. Ich werde mir mehr Zeit nehmen!
Wo ist das Auenland geblieben
Einen kleinen Spaziergang durch die Heimatstadt konnte ich mir dann doch abringen. Mit einer für mich eher als Spielzeugkamera wirkenden kleinen Canon. Eigentlich zum Videos drehen angeschafft von meinem Mann, testete ich diese für einige Aufnahmen des morbiden Charmes, den ich immer wieder entdecke. Es gibt ihn hier noch. Vielen sind diese Bilder zu trostlos, zeigen den Verfall, das Verlassene, die Unschönheit einer Stadt. Ich mag gerade diese Ecken hervorzuheben, zu zeigen, nicht wegzuschauen.
Hausgemachte StabilitätWeinkeller?Gegen Abrutschen gesicherter Olymp.Treffen wir uns an der alten Laterne?Haus mit langer GeschichtePatriotischer Schweizer oder Ostdeutscher?Hier steht sie noch – die Mauer.
Nur, wie alles seine Zeit hat, so hat auch alles seinen Ort. Wo der Unfug bis auf einen gewissen Grad gestiegen ist, da hat Schweigen und Vergessen seine Bedeutung verloren.