Die Liebe zur Unschärfe

Du kannst dich nicht auf deine Augen verlassen, wenn deine Vorstellungen unscharf sind.

Mark Twain

Mit der Einschulung bekam sie eine Brille. Scharf sehen kann sie seit diesem Ereignis nur durch zwei Gläser vor den Augen. Mit knapp 16 nistete sich zu allem übel der Parasit Toxoplasma gondii ausgerechnet in ihrem rechten Auge ein. Rohes Fleisch, Katzen im Haus, keiner weiß genau, wie er in sie eindrang. Eine Entzündung führte zu einem Krankenhausaufenthalt und zurück blieb eine Narbe im Auge, die als grauer Bereich für immer einen Teil des Sehfeldes einschränkt. Gratulation. Immerhin gleicht das linke Auge die Sehkraft zum Großteil aus. Selten erblinden Menschen daran, also doch irgendwie Glück gehabt. Wenn sie es unscharf braucht, muss sie nur die Brille abnehmen. Für die Fotografie ist es manchmal ein Hindernis. Durch den Sucher zu schauen kann sie nur mit dem linken Auge. Mit zunehmenden Alter muss sie die Brille absetzen zum Betrachten der Ergebnisse auf oder dem Fotografieren mit dem Display. Unscharfer Alltag, der sie trotzdem nicht besonders stört. Manchmal winkt sie Menschen, die sie gar nicht kennt. In der Sauna muss sie nicht alle Details betrachten. Eine gewisse Unschärfe kann auch Vorteile haben.

Vielleicht mag sie deshalb diese Fotos so sehr, die sich mit der „Bewegten Kamera“ herstellen lassen. Schärfe ist doch immer und überall gewollt. Perfektion gilt als deutsche Tugend. Geordnet sollte das Leben sein, klar und strukturiert. Nach System und Schema F bitte schön. DIN ist immer hilfreich oder erforderlich und bitte für alles eine passende und beschriftete Schublade. Nur kein Wischi Waschi.

Dabei ist die Welt in den unscharfen Bereichen doch viel interessanter. Wenn der liebe Zufall eine unerwartete Begegnung herbeizaubert. Der Moment anders verläuft als geplant. Ein bisschen Chaos den Alltag durcheinander wirbelt, der Plan nicht immer funktioniert. Das Essen besser schmeckt wenn es nicht genau nach Rezept gekocht wird. Ziele entdeckt werden, weil die vorgegebe Route durch einen Stau ganz anders umfahren wird.

An die perfekten Tage in der Vergangenheit erinnert sie sich selten, eher an die ungewöhnlichen, die unscharfen. Diese ungewissen Zeit in den frühen 90ern, schon unscharf in der Erinnerung und dennoch prägend. Hilflos, planlos, selbst entscheiden müssen, die Eltern hatten eigene Hindernisse zu überwinden. Selbstbewusst werden, ausprobieren, Risiken eingehen. Später einsehen, dass nicht alles optimal verlief und trotzdem den Mut nie verloren zu haben. Die Kamera ist eine treue Seele, ihr Werkzeug sich auszudrücken. Schon sehr lange an ihrer Seite, quasi verheiratet mit ihr.

Gemeinsam neue Ecken zu erkunden, die Unschärfe finden im so durchorganisierten Singapur. Die klaren Regeln und Vorgaben aufzuweichen, soweit es möglich ist. Das bewegte Leben festzuhalten. Oder den stillen Objekten Leben einzuhauchen. Tanzende Stoffe, hüpfende Gurken, rotierende Palmen oder entfliehende Rosen an der Hauswand. Sie findet immer wieder Momente der Unschärfte, sie sind das Salz in ihrem Leben. Oder doch der Zucker? In Asien wohl eher das Chili.

Die Unschärfe ist eine Form der Ungenauigkeit, Unbestimmtheit oder Ungewissheit bei der Abbildung bzw. Wiedergabe eines Objekts oder Sachverhalts. Unschärfe ist nicht zwangsläufig ein Fehler, beim Weichzeichnen ist sie beispielsweise erwünscht, in der Quantenmechanik ist sie prinzipieller Natur und daher unvermeidbar. Quelle: Wikipedia