Ein Stück Brandenburg.

„Warten auf’n Bus“ – eine kleine feine Fernsehserie in den Öffentlich-Rechtlichen. Eine Bushaltestelle. Hannes und Ralle. Kathrin. Ein Hund. Landschaft, Gespräche, Philosophie. Ostalgie. Ein bisschen Wehmut. Reicht. Weniger ist Mehr. Ich habe diese acht Folgen genossen. Ein Zitat daraus: In Brandenburg leben bald weniger Menschen auf den Quadratkilometer als in Angola.

Brandenburg misst knapp 30.000 Quadratkilometer, durchschnittlich leben hier 85 auf einem. In Angola sind es nur 21. Das kleine Dorf T. im Landkreis Oder-Spree schafft mit seinen 616 Einwohnern 29 auf den Quadratkilometer. Nah dran an Angola.

Vielleicht ließ mich mein Unterbewusstsein diesen Ort als Reiseziel auswählen, vielleicht war es einfach nur Zufall. Mit uns waren es fünf Personen mehr für eine knappe Woche.

Erwarte nichts, und du wirst nicht enttäuscht.

© Andreas Trautmann
Im idyllischen Ort Leißnitz, inmitten der Ferienregion Seenland Oder-Spree gelegen,  befindet sich Brandenburgs einzige Handseilzugfähre. 1971 wurde sie in der Werft in Eisenhüttenstadt gebaut und fuhr bis 1996 über den Oder-Spree-Kanal in Eisenhüttenstadt. Seit 1999 verbindet die Fähre die beiden Ortschaften Leißnitz und Ranzig, welche durch die Spree voneinander getrennt werden. Quelle: http://www.faehre-leissnitz.de/

In letzter Zeit fand ich Gefallen daran, mich nicht mehr akribisch auf den Ort oder die Umgebung des Reiseziels vorzubereiten. Mit Familie unterwegs zu sein bedeutet ohnehin oft Planänderung, das Wetter mischt ebenso gerne mit. Spontan Unbekanntes zu entdecken, finde ich reizvoll. Den nahen Spreewald kannte ich bereits ein wenig, die Gegend um T. dagegen überhaupt nicht. Das es im Ort eine Bäckerei gibt, reichte fürs Erste. Dieser erwies sich als wahre Perle in der jetzt meistens vorzufindenden Backshop-Kultur. Der Apfel mit Decke, ein Gedicht, satt und süß. Den gab es leider nicht jeden Tag. Am zweiten Tag fühlte ich mich schon wie eine Einheimische, die Verkäuferin merkt sich hier schnell ein neues Gesicht. Vor der Heimreise machte sie mir den besten Eiskaffe seit langem. Mit nach Mokka schmeckendem Kaffee, Vanillesofteis und Sahne. Rettet die Dorfbäcker liebe Brandenburger! Es wäre ein Jammer, wenn dieser keine Nachfolge findet.

Ruhig liegt der See
Heute hier keine Kaffeekännchen.

Um die Ecke von T. liegt der Schwielochsee, der grösste natürliche See in Brandenburg. Im Strandbad Jessern fühlten wir uns wie auf einem anderen Planeten, keine Menschenseele, Strandcafé und Bootsverleih verschlossen, Rutsche abgeriegelt. Im Corona-Schlaf? Vermutlich ist die Saison noch nicht gestartet, es wird nur am Wochenende geöffnet. Eine Gaststätte für den Hunger fand sich am gegenüber liegenden Ufer. Dort trafen sich alle Reisenden zu Soljanka, Fischsuppe oder Würzfleisch und Spreewaldgurken frisch aus dem Faß an Schmalzstulle.

Bei Anruf Boot!
Wasser geschätzt 19 Grad
Früher stand eine große Rutsche direkt im See

Die Vermieterin unserer Unterkunft plauderte ein wenig aus dem Nähkästchen, mich interessierte die Geschichte einiger Gebäude im Dorf. Alle Gaststätten sind geschlossen, die letzte machte im vergangenen Sommer dicht. Touristisch ist der Rand des Spreewaldes etwas abgehängt. Alles ballt sich in Burg oder Lübbenau. Auch der Fischerei geht es schlecht. Die beiden verblieben Fischer sind verstorben. Den einen holte sich der See, der einer Legende nach jedes Jahr ein Opfer verlangt. Und tatsächlich wird darüber berichtet.

Die Entstehung des Schwielochsees wird in einer Legende so erklärt, dass in grauer Vorzeit in diesem Gebiet ein mächtiger Laubwald in sumpfiger Landschaft gestanden haben soll. Ein Wendenkönig hatte sich diese Gegend für seine wilden Schweine auserwählt, die hier gut und ungestört gedeihen konnten. Eines Tages stieß eine riesige Sau beim Wühlen unterhalb des Babenberges auf eine verborgene Quelle. Dem aufgerissenen Erdreich entquollen mächtige Wassermassen, die sich in den Wald ergossen. Nach einiger Zeit war der einst so mächtige und prächtige Wald verschwunden. Über die Wipfel der versunkenen Bäume fluteten nun die Wogen eines riesigen Sees, der seitdem Swinlug-Schweineloch oder wie heut „Schwielochsee“ genannt wird.

Da die gesamte Schweineherde in den Wassermassen umgekommen war, geriet der Adlige in großen Zorn. Er befahl alle seine Wildhüter zu sich und tötete sie wuterfüllt mit eigener Hand. Das Blut der Unglücklichen trübte das Wasser einer Quelle, die noch heut rötlich fließt. Einer von denen, die dabei ums Leben kamen, stieß in seiner Todesstunde einen schrecklichen Fluch aus. Er rief den See, der zu seinen eigenen und dem Tode seiner Mitstreiter geführt hatte, zum Rächer auf. So hält sich entsprechend der Sage noch bis heute der Glaube, dass der See alljährlich sein Opfer fordert. Aber auch der König der Wenden entkam seiner Strafe nicht. Im Kampfe mit anderen Adelsleuten unterlag er, und so nahm auch sein Leben ein frühes Ende. Sein enormer Schatz soll seither tief unten im Babenberge ruhen, er kann nur von dem gehoben werden, der mit drei Zähnen geboren wird. Quelle: Wikipedia

Eine Statistik, die diese Legende bestätigt, habe ich nicht gefunden.

Wippen verboten heute.
Herausforderung für den Postdienst

Kindergeburtstag in der Ferien zu feiern fiel dieses Jahr unserer Jüngeren nicht schwer. Große Party war nicht zu erwarten angesichts der Pandemie. Wir mieteten uns den kleinen Ludwig mit Außenbordmotor (15PS) und schipperten die Spree mit max. 10 km/h Richtung Neuendorfer See entlang. Unspektakulär, dafür Natur pur. Reiher, Bieber, Libellen, springende Fische; ein paar wenige Paddler kreuzten unseren Weg. Jeder durfte Kapitän sein. Eine Schleusendurchfahrt brachte etwas Spannung ins Programm. An einer kleinen Badestelle machten wir Halt, um unsere Brote zu futtern. Wie Rainald Grebe schon in seinem Brandenburg Lied singt: „Nimm dir Essen mit wir fahren nach BRANDENBURG! Wenn man zur Ostsee will, muss man durch BRANDENBURG!“ Eine gute Entscheidung, die Gaststätten und Imbisse entlang der Strecke hatten wieder alle geschlossen. Bis zum See tuckerten wir nicht, war zu weit. Der Bäcker im Ort lockte mit Eisbecher für das Geburtstagskind. Und den Sonnenuntergang auf dem Schwielochsee zu erleben, haben wir nicht alle Tage. Es hätte kein anderer Ort in der weiten Ferne sein müssen, an genau diesem Abend.

Schlafmaskenfan
Spreeidylle
An der Schleuse
Wolkenspiegelei
Stillgelegte Schleuse
Leine los!
Schwielochsee-Romantik

Auf dem Rückweg tuckerten wir am winzigen Hafen mit Imbiss, der Fischerei in Sabrodt, vorbei, der Ausweich-Kneipe für die Menschen im Dorf, seit alles andere schließen musste. Wir beschlossen diesem am nächsten Abend einen Besuch abzustatten, das Schild versprach Fischbrötchen und Räucherfisch. Die Frau vom Fischer, aus Leipzig Zugereiste, hat hier jetzt das Kommando. Liegeplätze verwalten, Campingplatz betreuen, Tiere versorgen, Imbiss am Laufen halten und die Männertruppe am Stammtisch betütteln. Die sitzen vermutlich jeden Abend hier, was ich gut nachvollziehen kann. Ruhige Stimmung zum zeitigen Feierabendbier, ab und zu ein paar Touristen mit Paddel- oder Motorboot sorgen für Abwechslung beim Blick auf die Spree. Der Hofhund bellt nicht und die Katzen freuen sich über ein Stück vom Fisch. Dem Matjesbrötchen würde ich glatt einen Michelinstern verleihen, mit Liebe serviert zerfloss es regelrecht auf der Zunge. So gut, dass wir am nächsten Tag wieder kamen. Wer hier keine Pause einlegt ist selbst Schuld.

Der Hof zum Hafen
Kater an Meereswand
Hofhund an Dachziegeln

Auf dem Weg zum Fischer legte ich den Nostalgie-Film in die Kamera ein. Immerhin gibt es neben der geschlossenen Gaststätte noch einen funktionstüchtigen Kondom-Automaten. Und dem deutschen Entdecker, Zoologen, Botaniker und Geologen Friedrich Wilhelm Ludwig Leichhardt, der in T. geboren wurde, ist die Straße zum Hafen gewidmet.

Kein Bier mehr seit 2019
Safty First
Die Liebe gilt den Blumen allein.
Eine Perle geht unter.

Die Mitreisenden verlangten nach der Naturstille ein wenig Stadtbrummen. Wir fuhren nach Burg, auf den unendlich langen geraden Alleen kommt man zügig voran und als die ersten Schilder mit Fliesen im Namen auftauchten, waren wir im touristisch erschlossenen Spreewald angekommen. Byhleguhrer Schneidenmühlfließ heißt einer davon. Ortsnamen sind hier immer auch in sorbischer Sprache angeschrieben. Běła Góra-Bělin ist der niedersorbische Name des Ortes Byhleguhre-Byhlen.

Dem Einkauf widerstehen, den Handel unterstützen?
Lass wachsen!
Noch im Dornröschenschlaf
Parade der verzweifelten Spielwaren
Frosch ohne Teich

Nach Eis und Rundgang, Mitnahme von essbaren Souvenirs und einer Christbaumkugel in Gurkenform schaute ich mir die evangelische Kirche im Ort an, für die als frühklassizistischer Saalbau mit vierseitiger Empore im Jahr 1799 der Grundstein gelegt und am 11. November 1804 eingeweiht wurde. Imposante Emporen befinden sich im Innenraum, mich zogen allerdings Namensschilder an den Kirchenbänken in ihren Bann. Solche sind mir bisher in keiner Kirche aufgefallen, vielleicht hatte ich nie darauf geachtet. Einige waren direkt in die Holzbänke eingraviert, wieder andere überschrieben oder mit Metallschildern übernagelt. Die Namen kunstvoll geschrieben, bei manchen mutete es nach Klingelschild.

Laut Recherchen waren diese Kennzeichnungen damals eine teure Angelegenheit. Aber jeder Bürger konnte sich mit dieser einmaligen Gebühr bis ans Ende seines Lebens vom Kirchenzehnt freikaufen. Außerdem war es früher üblich, dass vor allem alteingesessene Familien ihren Stammplatz durch solche Namensschilder auswiesen. Dabei war auch eine gewisse soziale Komponente wichtig: reichere und einflussreichere Familien saßen natürlich weiter vorne beim Altar. Alle noch verbleibenden Namensschilder der Kirche in Burg sind in dieser Galerie zu sehen:

Verging die Zeit irgendwie lansamer hier in Brandenburg? Die Tage im Juni wurden immer länger, die Sonne wanderte der Sommersonnenwende entgegen. Erholungseffekte stellten sich bereits nach dem ersten Stück Kuchen ein. Die Entspanntheit hielt sehr lange an nach dieser Reise.

Den letzten Tag verbachten wir am Teich des Nachbardorfes. Ein Campingplatz findet sich dort, das Tagesticket fürs Parken kostet fast nichts. Um 11 Uhr Morgens war die kleine beschauliche Wiese am See und alle Bänke noch leer. Auch die Rolläden des kleinen Pavillons Namens Strand-Eck fest verschlossen. Es war Freitag, vielleicht öffnet er ja noch für ein Eis, Himbeerbrause, Bockwurst und Kaffee, die an den Verkaufsschildern angepriesen werden. Wir sollten Glück haben.

Im See herrscht Ruhe
Stilechter Imbiss

Erwarte Nichts – Finde Alles!

Mag sein, dass sich damit keine Werbetrommel für Brandenburg schlagen ließe, für mich passen diese vier Worte so wunderbar in die fünf Tage am Rande des Spreewalds. Das geringer besiedelte Fleckchen hier berührten mein Herz und meine Seele gerade deshalb auf ganz einfache Weise. Ich fühlte mich endlich wieder als Reisende weniger Touristin. Ein befriedigendes Gefühl. Den Zwiespalt, dieser Region einen wirtschaftlichen Aufschwung zu wünschen und gleichzeitig diese Atmosphäre der Einsamkeit zu bewahren, kann ich leider nicht auflösen.

Am Schilf