Allein die Sterne fehlen

Ach, nur im Dunkeln funkeln die Sterne!

Paul Scheerbart (1863 – 1915)

Wenn es Nacht wird in Singapur, leuchtet so ziemlich alles, außer den Sternen. Straßenlaternen über die ganze Stadt verteilt erhellen auch die abgelegensten Wege. Gebäude werden von außen angestrahlt, aus den Fenstern dringt Licht ins Freie, sogar die Treppenhäuser in den Hochhäusern kennen keine Bewegungsmelder und leuchte die ganze Nacht. Werbeanzeigen, Warnleuchten auf den Dächern und Funkmasten. Unzählige Autos ziehen ihre Lichtspuren in den Straßen, dazwischen ab und an ein Rennradler mit Blinklicht. Die Stadt ist so hell, dass die Wolken von unten angestrahlt werden und immer als weiße Schäfchen am Nachthimmel prangen. Zum Glück haben wir Vorhänge in den Schlafräumen, denn die Nachbarn lassen gerne das Licht brennen. Kein warmweißes, sondern das extra helle Krankenhauslicht. Obwohl die Energiekosten nicht gerade günstig sind, Stromsparen ist wohl nicht so populär in der City. Zum Sternegucken müsste es eine lichtfreie Zone geben, die hier eher nirgends zu finden sein wird. Dafür kann ich mich nur auf die einsame Alm in Tirol träumen, wo wir in klaren Nächten ungehindert die Milchstraße bewundern konnten.

Den Vorteil der vielen Lichter nutze ich für ein paar Aufnahmen meiner geliebten bewegten Bilder. Damit lassen sich zumindest die künstlichen Lichtspuren perfekt einfangen. Die immer warmen Nächte machen Nachtaufnahmen etwas leichter, keine Jacke, dicke Handschuhe oder Mütze beim Einsatz erforderlich. Und irgendwann werde ich auch die Milchstraße mit ihren Milliarden Sternen wiedersehen.

Ghost Town

Ein Geist geht um in der Stadt, unsichtbar und aller Orten. Sie kann ihn nicht sehen und spürt ihn dennoch auf Schritt und Tritt. Er verfolgt sie und alle anderen, die draußen unterwegs sind. Warnschilder überall, geklebt, aufgestellt oder hingehängt. Sie schützt sich wie alle mit einer Maske im Gesicht und hat das Gefühl, damit ein Stück ihrer Identität zu verstecken. Keine Reaktion in den Gesichtern mehr zu sehen. Nur die Augen verraten ab und an die Stimmungslage ihres Gegenübers.

Es herrscht Angst, nicht mehr nur vor Ansteckung und den Folgen einer Krankheit, die global alles verändert hat. Existenzen stehen auf dem Spiel. Es ist oft so ruhig, dass es wie eine Geisterstadt wirkt. Leere Straßen, Plätze, Räume, wo einst Handel getrieben oder Essen serviert wurde. Dieses wird jetzt noch öfter von den motorisierten Reitern abgeholt und in die sicheren Wohnungen geliefert. Dort wo Menschen auswärts essen beobachtet sie viele einsame Gestalten, die allein an einem der Tische sitzen. In die Luft starren oder auf das Display des Telefons. Geselligkeit, Unbeschwertheit, Lachen? Wo seid ihr, der Geist der Pandemie hat euch vertrieben.

Auf Abstand bleiben, nicht reden während die Metro durch den Untergrund braust. Check-In, Check-Out. Routine mittlerweile für sie und alle anderen. Wie lange noch? Für immer? Hoffentlich nicht. Alles fliegt heute an ihr vorbei, kein Innehalten möglich. Möglichst schnell das Wichtige erledigen, um zurück in die sicheren vier Wände zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach ein wenig innerer Wärme, Hoffnung, Zuversicht, einem Gespräch.

Im dritten Stock des Einkaufszentrums tritt sie ein in die vielleicht 30 qm Oase des kleinen Glücks. Neben zwei Ständern mit Postkarten und einer kleinen Auslage von handgemalten Karten steht sie hinter der Theke. Sie nennt sie Estelle, weil sie ihren richtigen Namen noch nicht kennt. Die betagte Dame ist immer ordentlich gekleidet und frisiert. Sie trägt Perlenohrringe zur passenden Kette. Vor ihr steht eine alte grüne Waage, ein Notizblock und ein Taschenrechner liegen bereit. Ihr Mann steht vor der Theke, sie trinken Tee zusammen. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Im hinteren Teil des Ladens soll ein kleines Fotostudio für weitere Einnahmen sorgen. Niemand braucht gerade Postkarten. Sie kauft immer welche und heute noch einen Stapel Briefmarken dazu. Estelle verpackt alles gewissenhaft, wiegt die Briefe ab und klebt die Marken sorgfältig darauf. „My dear“ sagt sie immer, da schmilzt ihr das Herz, wenn sie es hört. Sie verwickelt Estelle in ein Gespräch. Seit 47 Jahre betreibt sie dieses kleine Geschäft, steht immer außer Sonntags hinter der engen Theke. Kaum zu glauben, dass sie schon 76 Jahre alt sein soll. Im Juli 1945 wurde sie geboren, ihre Schwester ein Jahr vor ihr. Und als sie ihre Maske absetzt, staunt sie über das frische Gesicht und die glatte Haut. Schwere Zeiten momentan, ohne die Hilfe ihrer Tochter könnte sie den Laden nicht halten. Aber zu Hause sitzen und dunklen Gedanken nachzuhängen liegt nicht in Estelles Natur. Sie kämpft weiter und hofft, dass es bald wieder mehr Menschen in ihr kleines Geschäft zieht, um Postkarten zu kaufen und vielleicht einen Bogen Geschenkpapier.

Beseelt von diesen Minuten voller Worte macht sie sich auf den Rückweg. Die Geister werden noch eine Weile durch die Gassen ziehen, Halloween lockt Kameraden an, die sich vor den Geschäften in Stellung bringen. Vorsicht ist geboten.

Zum Glück gibt es in Asien jede Menge guter Geister, denen reichlich Gaben und Opfer erbracht werden. Die Hoffnung auf bessere Zeiten gibt hier so schnell keiner auf.

Nicht starke Mittel, sondern starke Geister ändern die Welt.

Alexandre Dumas der Jüngere (1824 – 1895)

Die Liebe zur Unschärfe

Du kannst dich nicht auf deine Augen verlassen, wenn deine Vorstellungen unscharf sind.

Mark Twain

Mit der Einschulung bekam sie eine Brille. Scharf sehen kann sie seit diesem Ereignis nur durch zwei Gläser vor den Augen. Mit knapp 16 nistete sich zu allem übel der Parasit Toxoplasma gondii ausgerechnet in ihrem rechten Auge ein. Rohes Fleisch, Katzen im Haus, keiner weiß genau, wie er in sie eindrang. Eine Entzündung führte zu einem Krankenhausaufenthalt und zurück blieb eine Narbe im Auge, die als grauer Bereich für immer einen Teil des Sehfeldes einschränkt. Gratulation. Immerhin gleicht das linke Auge die Sehkraft zum Großteil aus. Selten erblinden Menschen daran, also doch irgendwie Glück gehabt. Wenn sie es unscharf braucht, muss sie nur die Brille abnehmen. Für die Fotografie ist es manchmal ein Hindernis. Durch den Sucher zu schauen kann sie nur mit dem linken Auge. Mit zunehmenden Alter muss sie die Brille absetzen zum Betrachten der Ergebnisse auf oder dem Fotografieren mit dem Display. Unscharfer Alltag, der sie trotzdem nicht besonders stört. Manchmal winkt sie Menschen, die sie gar nicht kennt. In der Sauna muss sie nicht alle Details betrachten. Eine gewisse Unschärfe kann auch Vorteile haben.

Vielleicht mag sie deshalb diese Fotos so sehr, die sich mit der „Bewegten Kamera“ herstellen lassen. Schärfe ist doch immer und überall gewollt. Perfektion gilt als deutsche Tugend. Geordnet sollte das Leben sein, klar und strukturiert. Nach System und Schema F bitte schön. DIN ist immer hilfreich oder erforderlich und bitte für alles eine passende und beschriftete Schublade. Nur kein Wischi Waschi.

Dabei ist die Welt in den unscharfen Bereichen doch viel interessanter. Wenn der liebe Zufall eine unerwartete Begegnung herbeizaubert. Der Moment anders verläuft als geplant. Ein bisschen Chaos den Alltag durcheinander wirbelt, der Plan nicht immer funktioniert. Das Essen besser schmeckt wenn es nicht genau nach Rezept gekocht wird. Ziele entdeckt werden, weil die vorgegebe Route durch einen Stau ganz anders umfahren wird.

An die perfekten Tage in der Vergangenheit erinnert sie sich selten, eher an die ungewöhnlichen, die unscharfen. Diese ungewissen Zeit in den frühen 90ern, schon unscharf in der Erinnerung und dennoch prägend. Hilflos, planlos, selbst entscheiden müssen, die Eltern hatten eigene Hindernisse zu überwinden. Selbstbewusst werden, ausprobieren, Risiken eingehen. Später einsehen, dass nicht alles optimal verlief und trotzdem den Mut nie verloren zu haben. Die Kamera ist eine treue Seele, ihr Werkzeug sich auszudrücken. Schon sehr lange an ihrer Seite, quasi verheiratet mit ihr.

Gemeinsam neue Ecken zu erkunden, die Unschärfe finden im so durchorganisierten Singapur. Die klaren Regeln und Vorgaben aufzuweichen, soweit es möglich ist. Das bewegte Leben festzuhalten. Oder den stillen Objekten Leben einzuhauchen. Tanzende Stoffe, hüpfende Gurken, rotierende Palmen oder entfliehende Rosen an der Hauswand. Sie findet immer wieder Momente der Unschärfte, sie sind das Salz in ihrem Leben. Oder doch der Zucker? In Asien wohl eher das Chili.

Die Unschärfe ist eine Form der Ungenauigkeit, Unbestimmtheit oder Ungewissheit bei der Abbildung bzw. Wiedergabe eines Objekts oder Sachverhalts. Unschärfe ist nicht zwangsläufig ein Fehler, beim Weichzeichnen ist sie beispielsweise erwünscht, in der Quantenmechanik ist sie prinzipieller Natur und daher unvermeidbar. Quelle: Wikipedia